Essen. Eine Puppe, eine Handtasche: Ausstellung „16 Objekte“ mit Artefakten der Gedenkstätte Yad Vashem erinnert in Essen an Schrecken des Holocaust.
Wer an den Holocaust denkt, der hat nicht unbedingt ein glitzerndes Abendtäschchen vor Augen. Doch eben dieses zierliche Accessoire gehört zu jenen 16 Objekten, die die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem für eine ganz besondere Ausstellung erstmals nach Deutschland geschickt hat. Nach dem Auftakt im Berliner Bundestag ist die Essener Welterbezeche Zollverein nun die zweite und vermutlich einzige weitere Deutschland-Station für eine Schau, die den Besuchern noch einmal einen neuen Blick auf die Schrecken des Nationalsozialismus ermöglichen soll. Mit Alltagsgegenständen, die sehr persönliche Geschichten ihrer Besitzer, ihrer Flucht und ihrer alten Heimat erzählen und beim Betrachter für Nähe sorgen sollen.
Die feingliedrige Ausgehtasche, die die Essener Möbelfabrikanten-Gattin Jenni Bachrach (1881-1942) mit einigen anderen persönliche Dingen wohl in Voraussicht der mörderischen Geschehnisse einem Anwalt übergab, bevor sie und ihr Mann 1942 vermutlich im Vernichtungslager Belzec ermordet wurde, hat 1952 schließlich den Weg nach Israel zu Adoptivtochter Eva gefunden. Das Mädchen hatten die Bachrachs schon 1939 mit einem Kindertransport nach England geschickt, bevor die wohlsituierten Eltern erst ihren florierenden Möbelgroßhandel in Karnap und dann ihr Leben verloren.
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Tochter Eva, berichtet Uri Kaufmann, Leiter der Alten Synagoge in Essen, habe den Ort der Kindheit später wieder besucht und unter anderem auch die Verlegung zweier Stolpersteine am damaligen Wohnort der Bachrachs in der Moorenstraße veranlasst.
Die Erinnerungskultur wieder lebendig zu machen, darum geht es auch Ruth Ur, denn: „Das Interesse am Thema Nationalsozialismus schrumpft“, bedauert die Kuratorin der Ausstellung und Direktorin der Deutschland-Repräsentanz von Yad Vashem in Berlin. „Viele sagen: Ich weiß das doch alles aus dem Schulunterricht.“ Zugewanderte würden den Nationalsozialismus nicht als Teil ihrer Geschichte begreifen. Ruth Ur sieht das anders: Der Holocaust betreffe jeden, der in Deutschland lebt. „Keiner kann sagen, das hat nichts mit mir zu tun.“
Um die Schrecken des Nationalsozialismus nicht nur mit Zahlen und Fakten als Geschichtsbücherwissen weiterzugeben, sondern das Herz der Menschen zu erreichen, hat die Gedenkstätte Yad Vashem erstmals in der nunmehr 70-jährigen Geschichte 16 ausgewählte Objekte der über 40.000 Artefakte zählenden Sammlung zurück ins Land ihrer einstigen Besitzer, aber auch ins Land der Täter geschickt – ein Objekt aus jedem Bundesland.
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Die Puppe von Lore Stern gehört dazu, die nun den Schlafanzug trägt, den die kleine Lore während der Pogromnacht in Kassel trug. Oder die winzige Keramikküche, die Anneliese Dreifus mitnehmen durfte, als die Familie von Stuttgart aus ins amerikanische Exil aufbrach. Zu sehen ist aber auch das Poesiealbum von Lilo Ermann, die mit ihren Eltern zwar zunächst nach Paris fliehen konnte, dann aber deportiert und in Auschwitz ermordet wurde, während ihr Großvater Gustav versteckt in einem Kloster überlebte und nach dem Krieg nach Eretz Israel auswanderte, wo er das Büchlein aufbewahrte. Die Unterschiedlichkeit der Alltagsgegenstände, so Theodor Grütter, Vorstandsmitglied der Stiftung Zollverein, stehe auch für die unterschiedlichen Lebenswege und Schicksale der einstigen Besitzer, die nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 fliehen mussten, aus ihrer Heimat vertrieben oder im Holocaust ermordet wurden.
Nicht jeder jüdischen Familie sei die Entscheidung ganz leicht gefallen, diese sehr persönlichen Erinnerungsstücke nach Deutschland zu geben, berichtet Michael Tal, Direktor der Objektsammlung in Yad Vashem. Nur ein Leihgeber hat sein Familienobjekt aber so sehr vermisst, dass es nach Berlin wieder zurück nach Jerusalem geholt werden musste. Der Chanukka-Leuchter des Rabbiners Arthur Posner ist in Essen nicht mehr dabei. Und doch ist das Objekt ganz präsent. Denn die Aufnahme von Rose (Rahel) Posner, die den Leuchter 1931 (!) auf der Fensterbank fotografierte, während draußen am NSDAP-Gebäude die Hakenkreuzfahne weht, prägt auch die Ausstellungsarchitektur.
Infos zur Ausstellung
Die Ausstellung „16 Objekte. Eine Ausstellung zu 70 Jahren Yad Vashem“ ist vom 6. März bis zum 29. Mai in der Zollverein-Halle 8 zu sehen. Öffnungszeiten: täglich von 10 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist frei. Ein Begleit-Booklet liegt aus.
Zur Ausstellung bieten die Alte Synagoge Essen, das Ruhr Museum, die Stiftung Zollverein und der Freundeskreis Yad Vashem e.V. ein umfangreiches Rahmenprogramm an. Dazu gehören unter anderem Vorträge, ein Stadtspaziergang und öffentliche Führungen (donnerstags 16.30 und samstags 14.30 Uhr) sowie spezielle Kuratorenführungen. www.zollverein.de
Führungen für Gruppen und Schulklassen können unter Tel 0201 246810 oder online unter besucherdienst@zollverein.de gebucht werden.
Jedes Exponat wird dabei wie eine eigene kleine Erinnerungsinsel präsentiert – flankiert von einem Vorhang, bewusst knapp gehaltenen Informationen und aktuellen Fotografien von den Orten, wo sich die Objekte früher einmal befunden haben. So erzählt die Ausstellung nicht nur vom Verschwinden des jüdischen Alltags in Nazi-Deutschland, sondern zeugt auch von den architektonischen Wunden und Bausünden der Nachkriegszeit.