Essen. . Die letzten Zeitzeugen, die den Holocaust überlebt haben, sind inzwischen hochbetagt. Viele von ihnen können nicht mehr reisen. Dafür kommen nur ihre Kinder und Enkel auf den Spuren ihrer Familie nach Essen und melden sich in der Alten Synagoge.

Wie aus der jungen Essenerin Anneliese Katz die Dichterin Anne Ranasinghe werden sollte – das ist eine der Geschichten, die im Archiv der Alten Synagoge schlummern. Aufgeschrieben hat sie nun die Judaistin Martina Strehlen, die seit zehn Jahren in dem Haus jüdischer Kultur arbeitet (siehe Text unten). „Wir haben einen Verteiler mit den Holocaust-Überlebenden aus Essen. Jeder von ihnen bekommt zum jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana und zum Geburtstag eine Karte.“

In den vergangenen Jahren wurden die Rückmeldungen immer seltener, stattdessen kam häufig eine Todesanzeige. Zu noch 300 meist hochbetagten Juden hält die Alte Synagoge bis heute Kontakt, viele von ihnen sind früher schon einmal zu Besuch gewesen: Von 1981 bis 2004 hatte Essen regelmäßig Gruppenbesuche von Holocaust-Überlebenden organisiert. Sie verbrachten eine Woche in Essen, oft begleitet von Ehepartnern oder Kindern. „Es war ein Wiedersehen mit ihrer Stadt, und nach dieser Woche im Herbst trafen hier viele schöne Briefe ein“, erzählt Martina Strehlen.

Geschichtsstunden mit Zeitzeugen

Bei diesen Gelegenheiten trafen sich auch frühere Mitschüler und Freunde wieder, die mitunter jahrzehntelang nichts über das Schicksal des anderen gewusst hatten. Außerdem waren viele der Holocaust-Überlebenden an Schulen zu Gast und gaben dort als Zeitzeugen Geschichtsstunden, wie sie man jedem Schüler nur wünschen kann.

Umso bedauerlicher war, dass das Besuchsprogramm im Jahr 2004 auslief. „Viele der Betroffenen waren uralt und konnten aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr reisen. Die Gruppen waren im Laufe der Jahre schon immer kleiner geworden.“ Sie habe die Liste der ehemaligen Essener aber durchgesehen, allen Besuchswünschen sei entsprochen worden. Außerdem gibt es Menschen wie Ellen Mendel aus New York, die immer wieder kommt, „weil ich selbst dankbar bin, mit den Deutschen über die Vergangenheit zu sprechen“.

Verbranntes Holz und Angst um Mitternacht

Die bedeutendste Dichterin Sri Lankas, Anne Ranasinghe, stammt aus Essen: Sie wurde am 2. Oktober 1925 als Anneliese Katz geboren und war das einzige Kind von Emil und Anna Amalie Katz. Schon als Kind schrieb sie Gedichte und Theaterstücke. 1936 führte sie ihr erstes Stück – über Königin Esther – mit anderen Kindern im Jüdischen Jugendheim in Essen auf (Bild oben).

Anneliese war dreizehn, als in der Nacht auf den 10. November 1938 die Synagoge in Brand gesteckt, die elterliche Wohnung im Südviertel verwüstet, ihr Vater verhaftet wurde. Um sie zu retten, schickten ihre Eltern sie mit einem Kindertransport nach England. Sie sahen sich nie wieder. Emil und Anna Amalie Katz wurden 1941 ins Ghetto Lodz deportiert und 1944 in Kulmhof (Chelmno) ermordet.

In England wurde Anneliese zu Anne, arbeitete als Krankenschwester und Journalistin und heiratete 1949 den Arzt Don Abraham Ranasinghe. Sie begleitete ihn, als er nach Sri Lanka zurückkehrte, wo sie von 1975 bis 1990 für Amnesty International arbeitete.

Anne Ranasinghe schrieb Gedichte, Geschichten und Hörspiele auf Englisch, die in viele Sprachen übersetzt wurden, auch ins Deutsche. 2007 erhielt sie die höchste literarische Ehrung Sri Lankas als Sahityaratne (Edelstein der Literatur).Viele ihrer Werke kreisen um das Leiden der Juden in der NS-Zeit, erinnern an das Leben in Essen und gedenken ihrer ermordeten Familie.

Anne Ranasinghe war seit 1983 mehrmals in Essen. Die Stadt hat die Veröffentlichung einer Sammlung ihrer Gedichte zur Schoah finanziert („Verbranntes Holz und Angst um Mitternacht“), der WDR drehte den Film „Heimsuchung“ über sie. Heute reist die 89-Jährige nicht mehr, aber sie hält Kontakt zur Alten Synagoge.

Längst sind es auch Kinder und Enkel, die auf den Spuren ihrer Vorfahren in der Alten Synagoge und bei Martina Strehlen landen. Die Wissenschaftlerin hat in Köln, Berlin und Jerusalem studiert und später in Rheinland-Pfalz und in Stuttgart Projekte über jüdische Friedhöfe gemacht. Weil sie die Inschriften faszinieren, ist sie – ganz privat – auch auf den jüdischen Friedhöfen in Essen unterwegs. Gern hätte sie mehr Zeit zum Forschen, aber in ihrer jetzigen Funktion sieht sie sich als Mittlerin, die Schülern und Studenten bei Referaten und Hausarbeiten hilft, die Material für Forschungs- und Zeitungsartikel weitergibt. Und die sich besonders freut, wenn plötzlich jüdische Besucher aus den Niederlanden oder Frankreich, aus den USA, Israel, Argentinien oder Brasilien vor ihr stehen und nach der Geschichte ihrer Familie fragen. „Es ist toll, diese Leute kennenzulernen!“