Essen. Kleine Kliniken müssen aufgeben, die individuelle Geburtshilfe werde zerstört, sagt eine Essener Hebamme. Sie arbeitet nicht mehr im Kreißsaal.

Hebammen sind begehrte Fachkräfte, um die nicht nur Essens Geburtskliniken buhlen – oft vergeblich. So musste das Alfried-Krupp-Krankenhaus im Sommer die Frauenklinik samt Geburtsstation auch schließen, weil es nicht gelang, weitere Geburtshelferinnen ans Haus zu binden. Nun gibt es mit Uniklinik und Elisabeth-Krankenhaus noch zwei Geburtskliniken in der Stadt, und einige werdende Mütter weichen schon in Nachbarstädte aus. Kathrin Holtze ist Hebamme in Essen und arbeitet schon länger nicht mehr im Kreißsaal. Ihre Gründe dürfte manche Kollegin teilen.

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Die 34-Jährige liebt ihren Beruf: „Für mich ist das eine Berufung, das wusste ich schon als Schülerin.“ Sie ist in Essen-Stoppenberg zur Schule gegangen und hat ihre Ausbildung in Paderborn gemacht. Seit 2011 ist sie examinierte Hebamme und hat vor ihrer Rückkehr nach Essen zunächst drei Jahre in Frankfurt gearbeitet. „An einer Level-4-Klinik.“

Wenn zwei Hebammen sechs Geburten im Blick halten müssen

An solchen Häusern gibt es keine angeschlossene Kinderstation oder gar eine Neugeborenen-Intensivstation. Hier sind Frauen mit problemlosem Schwangerschaftsverlauf gut aufgehoben. Droht eine Früh- und Risikogeburt, sollten sich werdende Mütter in ein Perinatalzentrum begeben. Zeitweilig hat Kathrin Holtze auch in einem so hochspezialisierten Haus gearbeitet. Sie ist also mit den unterschiedlichen Anforderungen der Geburtshilfe vertraut. Und mit hohem Stresspegel: „Unter der Geburt ist eine 1:1-Betreuung vorgeschrieben, aber es passiert, dass zwei Hebammen für sechs werdende Mütter zuständig sind und alles im Blick halten müssen.“

Immer mehr Kinder werden in großen Krankenhäusern mit angeschlossener Kinderklinik und Neugeborenen-Intensivstation geboren. Kleinere Geburtskliniken wie das Essener Krupp-Krankenhaus können oftmals nicht bestehen.
Immer mehr Kinder werden in großen Krankenhäusern mit angeschlossener Kinderklinik und Neugeborenen-Intensivstation geboren. Kleinere Geburtskliniken wie das Essener Krupp-Krankenhaus können oftmals nicht bestehen. © dpa | Waltraud Grubitzsch

Dass sie sich vom Kreißsaal verabschiedete, hatte zunächst private Gründe: 2017 kam ihr erster Sohn in Oberhausen zur Welt, 2020 der zweite in Wuppertal. „Als Hebamme habe ich mir liebe Freundinnen für die Geburten gesucht, um sicherzugehen, dass ich die beste Betreuung bekomme. Es war beide Male wie erhofft.“ Trotz dieser positiven Erfahrungen musste sie sich selbst beruflich umorientieren: „Früh-, Spät-, Nachtschicht in der Klinik – das ist als Mutter fast unmöglich, wenn der Partner oder das Umfeld das nicht auffangen kann.“ Die Arbeitszeiten ihres Mannes ließen das nicht zu.

Viele Hebammen gehen mit der Familiengründung in Teilzeit „oder verabschieden sich ganz aus dem Beruf“. Kathrin Holtze, die nebenberuflich studiert und einen Bachelor in Gesundheitsökonomie und -management erworben hatte, konnte als Controllerin ins Gesundheitswesen wechseln. Mit familienfreundlichen 20 Wochenstunden, Montag bis Donnerstag.

„Kinder kommen Tag und Nacht zur Welt, auch am Wochenende.“ Dass sie nicht im Kreißsaal arbeitet, liege jedoch keineswegs nur an den Arbeitszeiten, betont die 34-Jährige. „Wir sind immer für zwei Menschenleben verantwortlich.“ Der damit verbundene Druck werde einerseits durch die schwierige personelle Situation auf vielen Geburtsstationen verschärft, andererseits durch eine steigende Klagebereitschaft der Eltern und Versicherungen, wie Kranken- und Pflegekassen. „Wir arbeiten oft in der Sorge, eine Entscheidung zu treffen, die in einer Klage enden könnte.“

Mögliche Geburtsfehler können vor Gericht landen

Selbstverständlich müssten Behandlungsfehler ebenso geahndet werden wie grobe Fahrlässigkeit, stellt Kathrin Holtze klar. Doch nicht immer gebe es ein klares Richtig oder Falsch, manchmal stehe man vor einer heiklen Abwägung, weil in einer schwierigen Geburtssituation jeder Weg Risiken berge.

Sie illustriert das mit einem Urteil von Ende 2021: Da entschied das Oberlandesgericht Oldenburg über eine Geburt im Jahr 2010, bei der das Kind wegen Sauerstoffmangels einen Hirnschaden erlitt (Az. 5 U 130/19). Die Richter sahen einen Behandlungsfehler, weil die Geburt nicht durch eine Saugglocke beschleunigt worden war: 21 Minuten seien so verloren gegangen, was den Hirnschaden „zumindest mitverursacht“ habe. Die Vorinstanz hatte, gestützt auf ein anderes Gutachten, keinen Fehler gesehen.

Immer wieder werde vor Gericht nach jahrelangen Gutachterstreitigkeiten über Entscheidungen befunden, „die wir in Sekunden treffen müssen“. So setze man etwa die Saugglocke bewusst zurückhaltend ein, weil es eine eher brachiale Geburtsmethode sei, die dem Baby Verletzungen zufügen könne.

Arbeitsplatz mit hoher Verantwortung: der Kreißsaal.
Arbeitsplatz mit hoher Verantwortung: der Kreißsaal. © dpa | Britta Pedersen

Für viele entstandene Schäden werde nach Verantwortlichen gesucht – von Eltern, häufiger noch von Versicherern. Bis heute sei eine Geburt nicht zu 100 Prozent sicher. Auch wenn alles optimal und nach medizinischen Standards ablaufe, könne es zu Schwierigkeiten kommen.

Gab es tatsächlich einen Behandlungsfehler, kämen auf den Beklagten viel höhere Schadenersatzforderungen zu als in anderen medizinischen Bereichen, sagt die Hebamme. „Ein fehlerhafte Hüft-OP bei einem 65-Jährigen verursacht völlig andere Folgekosten als ein Sauerstoffmangel bei der Geburt: Das Baby hat noch sein ganzes Leben vor sich. Ist es schwerstbehindert, wird es nie einen Beruf ergreifen können und benötigt gleichzeitig lebenslang Unterhalt und kostspielige Behandlungen.“ Entsprechend hoch seien Versicherungssummen für Hebammen und Geburtskliniken.

In Geburtsstationen herrscht regelmäßig der Ausnahmezustand

Da die Geburtshilfe schlecht honoriert werde und sich ohnehin kaum rechne, würden so „kleine Kliniken in die Knie gezwungen“. Es überlebten große Zentren mit immer mehr Kreißsälen. „Je höher die Zahl der Risiko-, Früh-, Mehrlingsgeburten, desto mehr verdient eine Klinik daran.“ Auch wenn dann mehr Entscheidungen in ärztlicher Hand lägen, müsse bei jeder Geburt eine Hebamme anwesend sein. Immerhin habe sie erlebt, dass die Absprachen mit Ärzten und Ärztinnen gut liefen und der Erfahrungsschatz lang gedienter Hebammen zähle.

Ein Beruf, der dem Wunder des Lebens näher kommt

Kathrin Holtze arbeitet nicht mehr im Kreißsaal, aber wieder als Hebamme. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes ist sie als Controllerin noch in Elternzeit. Seit Mai 2022 bietet sie eine Hebammen-Sprechstunde im Essener Norden an. „Die Frauen können sich in jeder Schwangerschaftswoche bei mir melden und auch nach der Schwangerschaft, wenn sie zum Beispiel Probleme mit dem Stillen haben.“

Sie betreut also punktuell Frauen, die in der Regel in ihre Praxis im früheren Marienhospital kommen. „Ich würde liebend gern Frauen von Beginn der Schwangerschaft bis zur Geburt betreuen, regelmäßig Hausbesuche machen, aber das geht aktuell als Mutter kleiner Kinder nicht.“

Begleiten darf sie nur werdende Mütter mit physiologischen (normal verlaufenden) Schwangerschaften, doch selbst das wüssten viele Frauen nicht. Für ihre Bachelorarbeit im Gesundheitsmanagement befragte sie 250 Mütter: „Die meisten wussten vor ihrer ersten Geburt praktisch nichts über Hebammen-Betreuung, erst recht nicht, dass sie schon in der fünften, sechsten Schwangerschaftswoche eine Hebamme suchen sollten.“

Lukrativ sei ihr Beruf nicht: Für einen Hausbesuch könne sie gut 38 Euro abrechnen, egal wie lange er dauere: „Und das muss ich noch versteuern“. Sie nehme sich eine halbe Stunde Zeit – um wirtschaftlich zu arbeiten, müsste sie nach 20 Minuten gehen. Im Geburtsvorbereitungskurs erhalte sie 7,96 Euro pro Frau und Stunde, bei maximal erlaubten zehn Teilnehmerinnen sind das 79,60 Euro pro Stunde abzüglich Steuern und Raummiete.

Trotzdem sagt Kathrin Holtze: „Dem Wunder des Lebens ein Stück näher zu kommen und Frauen mit ihren Familien auf einem spannenden Weg zu begleiten, fasziniert mich bis heute.“

Doch in manchen Geburtsstationen sei der Ausnahmezustand nicht mehr die Ausnahme: Da bleibe die 1:1-Betreuung regelmäßig auf der Strecke. „In der Ausbildung lernen wir, dass wir permanent bei der Kreißenden sitzen sollen. In der Praxis müssen wir oft zwei, drei Geburten im Blick haben.“ Auch die Reformansätze der Bundesregierung reichten nicht aus, hat jetzt die Präsidentin des Deutschen Hebammenverbandes, Ulrike Geppert-Orthofer, im „Spiegel“ erklärt: Die Geburtshilfe sei ein Verlustgeschäft: „Es bleibt lukrativer, einen Kaiserschnitt durchzuführen, als ausreichend Hebammen einzustellen.“

Personalsituation müsste dringend verbessert werden

Solange die Personalsituation nicht verbessert werde und auf den Hebammen eine wachsende Verantwortung laste, würden wohl weiter mehr und mehr Kolleginnen ihren Traumberuf aufgeben, fürchtet Kathrin Holtze. „Im bestehenden System wird die individuelle Geburtshilfe, die Mutter und Kind die nötige Zeit lässt, zerstört“, sagt sie. Dabei sei einer Studie zufolge der Ausgang einer Geburt „signifikant besser“, wenn es eine durchgehende Einzelbetreuung gebe. Schöner sei ein solches Geburtserlebnis natürlich auch.