Duisburg. Die Duisburgerin Lamya Kaddor hat bei den Grünen Blitzkarriere gemacht. Wir sprachen mit der Bundestagskandidatin über ihr Leben und die Politik.

Eine Bank unter alten Bäumen, mitten zwischen dem alten Lehrerhaus, der Friemersheimer Dorfkirche und der Dorfschenke: Es ist einer dieser idyllischen Plätze, mit denen Duisburg immer wieder überrascht. Gewählt für ein Treffen hat es Lamya Kaddor, die als Kandidatin der Duisburger Grünen in die Bundestagswahl geht.

Sie liebt das Ländliche „als totalen Kontrast zum anderen Leben“. Den Industriecharme im Ruhrgebiet habe sie erst entdecken müssen. Ihr Schwiegervater habe übrigens noch die alte Schule besucht. Heute gilt das um 1800 errichtete Gebäude als romantischer Ort für Trauungen. Und zu Weihnachten gehe sie auch mal in die Dorfkirche, sagt die 43-Jährige.

Auf dem Gymnasium in Ahlen war die Tochter syrischer Eltern „die Türkin“

1978 wurde Lamya Kaddor als Tochter syrischer Eltern im westfälischen Ahlen geboren, ihre beiden älteren Geschwister waren noch in Damaskus zur Welt gekommen. Ihr Vater war Automechaniker, ihre Mutter hat am Fließband gearbeitet, bevor das vierte Kinder kam. „Alle vier Kinder sind Akademiker geworden“, blickt Lamya Kaddor stolz auf diesen beachtlichen Bildungserfolg ihrer Familie.

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Auf dem Gymnasium in Ahlen sei sie zwar als „die Türkin“, also Ausländerkind wahr genommen worden, und bis heute müsse sie erklären, dass sie nicht Türkin ist, sondern Deutsche mit syrischen Wurzeln. Von ihren Mitschülern sei sie eher „exotisiert“ als ausgegrenzt worden, „von Lehrern schon“. Doch es sei ihr auch als Basketballerin im Verein und mit Sport im Abi nie schwer gefallen, Anschluss zu finden.

Die liberale Muslima ist als Expertin auch in Talkshows gefragt

Als Islamwissenschaftlerin, liberale Muslima und Publizistin ist die Lehrerin für muslimische Religion auch ein gefragter Gast in Talkshows. Ja, ihr Promi-Status könne dazu beigetragen haben, dass sie bei den Duisburger Grünen eine Blitzkarriere hingelegt hat. Im Oktober 2020 ist sie in die Partei eingetreten, um für den Bundestag zu kandidieren, im April 2021 wurde sie auf den aussichtsreichen Listenplatz 12 gewählt. Sie könne verstehen, dass das bei langjährigen Grünen Unmut über „eine von Außen“ ausgelöst habe. „Das ist eine legitime Kritik.“

Die im westfälischen Ahlen geborene Duisburgerin Lamya Kaddor ist für die Grünen auf dem Weg in den Bundestag.
Die im westfälischen Ahlen geborene Duisburgerin Lamya Kaddor ist für die Grünen auf dem Weg in den Bundestag. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Für die Grünen habe sie sich entschieden, nachdem sie als Expertin für Integrationsthemen viele Parteien und Gremien beraten habe. Sie sei auf der Suche nach einer politischen Heimat gewesen. Entscheidende Frage war: Wie reagieren die Parteien auf ihre Vorschläge? „Da kam wenig.“ Robert Habeck und Annalena Baerbock, die erkannt hätten, dass auch die Grünen zu homogen seien, wurden aktiv. Ergebnis: Die Partei hat ein Vielfaltsstatut, das vorgibt, in allen Gremien verstärkt Menschen mit Migrationsgeschichte einzusetzen. Ob das klappt, prüft ein Diversitätsrat.

Zentrale Forderung: kommunales Wahlrecht für Ausländer

Baerbock oder Habeck? „Es gab für beide gute Gründe. Sie sind gut als Team.“ Politische Vorbilder? Keine konkreten, aber: „Angela Merkel macht gute Arbeit mit ihrem Einsatz für Geflüchtete.“ Was Lamya Kaddor in den letzten Jahren nicht mitgetragen hätte? „Ich hätte die ,Herdprämie’ falsch gefunden.“ Was sie dringend notwendig findet? Das kommunale Wahlrecht für Ausländer, die Förderung der Elektromobilität. Was sie stört? „Die Behäbigkeit in Krisen.“ Was sowohl Corona als auch die Flutkatastrophe gezeigt habe: „Es gibt keinen Plan.“

Bei den Grünen müsse ja „dauernd gewählt“ werden, müssten Reden gehalten, Bewerbungen geschrieben, an Arbeitsgemeinschaften teilgenommen werden. „Wenn ich mich einbringen kann, passt das“, sagt Lamya Kaddor. Dafür gebe sie auch viel auf: ihren Beruf als Lehrerin oder die Arbeit an der Universität Duisburg-Essen, wo sie zur Zeit ein Forschungsprojekt über Antisemitismus bei Jugendlichen leitet.

Ihre Kinder haben den jüdischen Kindergarten besucht

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Schon in ihrem Studium in Münster hat Lamya Kaddor sich neben dem Erlernen von Hocharabisch, Türkisch, Latein und Französisch mit dem Judentum beschäftigen müssen, der Religion, aus der das Christentum und der Islam hervor gegangen sind. Über den CDU-Politiker und ehemaligen Integrationsbeauftragten der Landesregierung Thomas Kufen, heute Oberbürgermeister in Essen, ist sie in den interreligiösen Dialog eingestiegen.

Bundestagswahl 2021 in Duisburg

Bei einer Tagung hat sie sich mit Michael Rubinstein angefreundet, dem früheren Geschäftsführer der jüdischen Gemeinde Duisburg, der 2012 als unabhängiger Kandidat zur OB-Wahl angetreten ist. Mit ihm hat sie das Buch „So fremd und doch so nah“ geschrieben, ein muslimisch-jüdischer Dialog. Bei Rubinstein hat sie angefragt, als sie Kindergartenplätze mit Nachmittagsbetreuung suchte.

Das konnte der jüdische Kindergarten bieten. Dass ihre beiden Kinder Muslime sind, spielte für die Aufnahme keine Rolle. Allerdings musste sich Lamya Kaddor wie die anderen Eltern beim Abholen der Kinder von einem Nachbarn übelst antisemitisch beschimpfen lassen. „Er war immer betrunken, da konnte man nicht viel machen“, hat die sonst durchaus streitbare Politikerin erfahren müssen. „Ich kann provozieren – und weiß, wann besser nicht.“

Mit Anfeindungen bis hin zu Morddrohungen leben

Die 43-Jährige musste lernen, mit Anfeindungen bis hin zu Morddrohungen umzugehen. Zumal nachdem fünf ihrer ehemaligen Schüler in Dinslaken, wo sie als frisch gebackene Lehrerin mit 26 ins Berufsleben gestartet ist, als Mitglieder der „Lohberger Brigade“ nach Syrien in den Kampf um den „Islamischen Staat“ gezogen waren.

„Nicht irgendein Brennpunktstadtteil, schlimmer als jedes Klischee“, erinnert sich Lamya Kaddor an den Kulturschock, aus Ahlen nach Lohberg gekommen zu sein. Immer noch seltsam findet sie die Begrüßung durch die Schulleiterin, die vor den Schülern ihr „super gutes Deutsch“ gelobt habe. Und als sie ihre erste Unterrichtsstunde mit einem „Guten Morgen, Salem Aleikum“ begann, habe dieser Gruß ihre Schüler geradezu beschämt: „Darf man das in einem Satz sagen?“

Den islamistischen deutschen Prediger und ehemaligen Boxer Pierre Vogel hätten ihre Schüler toll gefunden. Die Frage, ob sie es hätte merken müssen, dass ihre ehemaligen Schüler gefährdet waren, habe sie lange bewegt. „Man löst sich ja nicht von seiner Fürsorgepflicht.“ Mit einem Rückkehrer habe sie dann sprechen können und ihn nach dem Warum gefragt. „Er hat gesagt, er will den Muslimen helfen“, ist sie immer noch fassungslos.

Der Krieg in Syrien hat Lamya Kaddor eingeholt

Durch eine weitere Tragödie ist der Krieg in Syrien „zum Teil meiner Biografie geworden“, sagt Lamya Kaddor. Ihr Vater, den es immer wieder mal ins heimatliche Dorf und Haus seiner Eltern zurück gezogen hat, wurde bei einem Bombenangriff der USA bei Idlib schwer verletzt, ein Bein musste amputiert werden. Ihn aus dem Kriegsgebiet nach Deutschland zu holen, sei abenteuerlich gewesen. „Es hat fünf Jahre gedauert, bis er wieder laufen konnte. Und wollte wieder nach Syrien.“ Keiner habe ihn aufhalten können. 2019 fiel er einem Raubmord zum Opfer. „Wir haben per SMS von seinem Tod erfahren.“

Vier Jahre lang war Lamya Kaddor wegen Morddrohungen als Lehrerin beurlaubt, inzwischen unterrichtet sie wieder am Landfermann-Gymnasium. Wie sie das ausgehalten hat? „Ich kann viel mit meinem Partner sprechen. Ich habe weniger Angst um mich als um andere. Emails versetzen mich nicht mehr in Panik. Ich bin nach einem Vortrag schon mal körperlich angegriffen worden. Ich bin wachsam.“

Wahlkampf: „Nachsitzen mit Lamya Kaddor“

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Im April hat für Lamya Kaddor der Vorwahlkampf begonnen, jetzt in der heißen Phase, ist die Kandidatin einerseits unterwegs – im Bienenmuseum, im Frauenhaus, bei der Gewerkschaft der Polizei oder besucht mit Anton Hofreiter HKM. Andererseits gibt es das Format „Nachsitzen“, ihre selbstbewusste Antwort auf die Frage, „wie ich denn so als Lehrerin bin“. Im „Unterricht“ am 3. September: Hasnain Kazim, aufgewachsen im Alten Land, Marineoffizier, Journalist und Autor.

Der Sprint in die (Partei-)Politik, der Wahlkampf, ihre Kolumnen für ein Online-Nachrichtenportal – Lamya Kaddor hat momentan viele Bälle in der Luft. Zur Entspannung backt sie gern syrische Süßigkeiten aus Pistazien, Engelshaar, Rosenwasser, Honig und Butter. Reine Nervennahrung.

>> LAMYA KADDORS POLITISCHE ANLIEGEN

  • Lamya Kaddor würde ihre erste Rede im Deutschen Bundestag über Vielfalt als Normalität halten wollen. Vielfalt sei keine Bedrohung, sondern Kapital, in das man investieren müsse.
  • Sie möchte sich in Berlin für ein echtes Integrationsgesetz einsetzen, das die deutsche Gesellschaft und den Staat ebenso wie Einwanderer und Einwanderinnen gleichermaßen in die Pflicht nimmt. Die Grünen wollen ein Einwanderungs- und Integrationsministerium.
  • In der Außenpolitik setzt sie auf mehr Multilateralismus und mehr Kooperationen mit NGOs weltweit. Kriege wie in Syrien oder der Konflikt im Jemen, aber auch die Erosion von Demokratie treiben sie um.