Duisburg. Viele Probleme, wenig Hoffnung: In Teilen Duisburgs war die Wahlbeteiligung 2017 so gering wie nirgendwo sonst in Deutschland. Auch dieses Mal?

Wie viele Duisburger nehmen an der Demokratie noch teil? Wahlen haben zuletzt gezeigt: Es werden immer weniger. Bei der Bundestagswahl 2017 gaben in keinem deutschen Wahlkreis weniger Berechtigte ihre Stimme ab als im Wahlkreis 116, Duisburg II (64,8 Prozent). In Stadtteilen wie Untermeiderich oder Bruckhausen lag die Wahlbeteiligung bei unter 60, in Marxloh bei nur 45 Prozent. Setzen dieses Mal mehr Menschen ihre Kreuze?

Melih Keser ist skeptisch. „Zu viele fühlen sich nicht vertreten“, sagt der Lokalpolitiker, der sich vor allem in Duisburgs schlecht situierten Stadtteilen engagiert. Er sieht ein massives Problem der Politik bei der Ansprache der Menschen: „Man muss mit den einfachen Leuten in einfachen Worten über ihre Themen sprechen.“

Förderprogramme im Duisburger Norden: Menschen sehen keine Wirkung

Keser ist selbst in einem Viertel aufgewachsen, das als „sozialer Brennpunkt“ gilt – mit dem letzten Weißen Riesen in Hochheide fiel vor wenigen Wochen das Haus, in dem der Sohn türkischer Einwanderer seine Kindheit verbrachte. „Schon damals hatten wir das Gefühl, dass oft über uns, aber nie mit uns geredet wird.“

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Die meisten Politikerinnen und Politiker, meint Keser, seien zwar im Wahlkampf vor Ort. „Aber meistens gehen sie immer zu den gleichen Vereinen und Unternehmen, wo sie die Leute eh schon kennen. Die alleinerziehende Mutter oder den verarmten Rentner erreicht man da aber nicht.“

Viele Menschen hätten gar keine Erwartungen mehr an die Politik, die im Duisburger Norden vor allem mit immer neuen Förderprogrammen für sich werbe. „Aber die Leute nehmen es so wahr, dass davon nichts dort ankommt, wo es gebraucht wird.“

Viele Russlanddeutsche in Neumühl: Vorteil für die AfD?

2017 ging die geringe Wahlbeteiligung vielerorts mit hohen Stimmenanteilen für die AfD einher. In einem Stadtteil schnitt die rechtspopulistische Partei besonders gut ab: Neumühl. Bei 61,7 Prozent Wahlbeteiligung gaben 21,4 Prozent der Wählerinnen und Wähler ihre Zweitstimme der AfD; im Neumühler Stimmbezirk 0904 waren es sogar 29,7 Prozent. Die AfD war dort stärkste Kraft.

In Neumühl leben vergleichsweise viele Menschen mit Wurzeln in Russland oder Osteuropa. Ihnen wird oft eine grundsätzliche Sympathie für die AfD nachgesagt – Netzwerke wie „Russlanddeutsche für die AfD NRW“ arbeiten ganz bewusst an diesem Image. „Die Russlanddeutschen“ seien fündig geworden auf der Suche nach einer Partei, „die für konservative sowie christliche Werte eintritt“, schreibt die Organisation auf ihrer Website. Die Partei stehe „für die Interessen der Familien und gegen eine potenziell bedrohende Islamisierung Deutschlands“.

Eine rund um die Bundestagswahl 2017 von der Universität Duisburg-Essen angefertigte, repräsentative Studie konnte diesen Zusammenhang jedoch nicht nachweisen. Von den sogenannten Russlanddeutschen, die das Team um Politikwissenschaftler Achim Goerres damals befragte, hatten 15 Prozent die AfD gewählt – dieser Wert war kaum höher als in der Gesamtbevölkerung.

2017: Menschen hatten Flüchtlingssituation noch im Kopf

Fragt man Pater Tobias Breer, warum damals so viele Neumühlerinnen und Neumühler für die AfD gestimmt haben, erinnert er an die Zeit nach 2015, als immer mehr Menschen aus Syrien nach Deutschland geflüchtet waren. Gleich drei Unterkünfte richtete die Stadt in Neumühl ein – viele Anwohner hätten verängstigt reagiert.

Wo früher heruntergekommene Häuser standen, befindet sich heute eine Parkanlage: Wie hier beim Grüngürtel in Duisburg-Bruckhausen sind viele Fördergelder in den Duisburger Norden geflossen – doch viele Menschen empfinden, dass sich für sie nichts verbessert hat.
Wo früher heruntergekommene Häuser standen, befindet sich heute eine Parkanlage: Wie hier beim Grüngürtel in Duisburg-Bruckhausen sind viele Fördergelder in den Duisburger Norden geflossen – doch viele Menschen empfinden, dass sich für sie nichts verbessert hat. © FUNKE Foto Services | Jörg Schimmel

Als 2017 die Wahl stattfand, war zwar die größte Unterkunft im alten Barbara-Hospital schon wieder aufgelöst worden. Aber in den Köpfen der Menschen sei die Situation noch präsent gewesen, sagt Pater Tobias: „Gerade Ältere hatten Vorbehalte.“ Das hätten er und seine Mitarbeiter auch in der Anfangszeit des syrisch-deutschen Restaurants Sham gespürt: „Da haben Leute zum Beispiel gefordert, dass wir das Bild von der Moschee in Damaskus von der Wand nehmen.“

Breer glaubt nicht, dass die AfD in Neumühl noch einmal so gut abschneidet: „Die meisten Leute haben ihre Ängste mit der Zeit abgelegt.“ Er hofft, mit dem Restaurant Sham dazu beigetragen und gezeigt zu haben, dass Integration funktionieren kann – das Restaurantteam besteht aus Syrern; sie haben das Lokal zu einer beliebten Adresse im Duisburger Norden gemacht.

Viele alleinerziehende Mütter im Duisburger Norden

Dass die Wahlbeteiligung wieder steigt, glaubt Pater Tobias dagegen nicht. Die Lebensumstände würden sich seit Jahren immer weiter verschlechtern: „Alters- und Kinderarmut sind die größten Probleme.“ Bei den Menschen, die er betreut, finde er mitunter „verheerende Zustände“ vor: „Einmal habe ich eine alte Frau in ihrer Wohnung im Wintermantel angetroffen. Als ich sie darauf ansprach, fing sie an zu weinen. Sie hat sich so dafür geschämt, ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen zu können.“

Wer sich keine vollwertige Mahlzeit leisten kann, bekommt im Sozialcafé „Offener Treff“, das ebenfalls zum Sham gehört, das Mittagessen zum reduzierten Preis. Gerade Rentnerinnen und Rentner machen von dieser Möglichkeit Gebrauch. Doch auch wenn sich ihre finanzielle Situation zunehmend verschärft: „Die Älteren gehen wählen, das ist mein Eindruck aus den Gesprächen“, sagt der Pater.

Er beobachte jedoch eine gesellschaftliche Entwicklung hin zu purem Desinteresse, die auch die Wahlbeteiligung sinken lasse. „In manchen Familien wissen sie gar nicht, dass Wahlen sind.“ Pater Tobias glaubt auch, dass Einigen schlicht keine Zeit bleibe, um sich mit Politik auseinanderzusetzen. Als Beispiel nennt er alleinerziehende Mütter: „Ich schätze, dass in Neumühl ein Drittel der Kinder von nur einem Elternteil großgezogen wird. Alleinerziehende haben viel Stress damit, sich und die Kinder über die Runden zu bringen.“

Duisburg-Hochfeld: Auch südlich der Ruhr wird kaum gewählt

Statistiken zeigen, dass die Wahlbeteiligung mit Bildungsgrad und Einkommen der Menschen steigt beziehungsweise sinkt, auch die Zahl der Arbeitslosen, Migranten und alleinerziehenden Frauen in einem Stadtteil steht damit in Zusammenhang. Nach der Kommunalwahl 2020 erklärte so Sandra Plümer von der NRW School of Governance das Duisburger Nord-Süd-Gefälle, also die deutlich geringere Wahlbeteiligung in Marxloh oder Hamborn im Vergleich zu Mündelheim oder Serm.

Melih Keser (l.) hilft Anfang 2021 dem ehemaligen Bewohner einer geräumten „Schrottimmobilie“ in Duisburg-Hochfeld. Keser meint, die Politik habe den Bezug zu den einfachen Menschen verloren.
Melih Keser (l.) hilft Anfang 2021 dem ehemaligen Bewohner einer geräumten „Schrottimmobilie“ in Duisburg-Hochfeld. Keser meint, die Politik habe den Bezug zu den einfachen Menschen verloren. © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

Doch auch im südlichen Wahlkreis 115, Duisburg I, gibt es einen Stadtteil, der eine solche Sozialstruktur aufweist, und in dem ebenfalls kaum gewählt wird: In den beiden Hochfelder Wahlbezirken Hochfeld-Süd/Wanheimerort-West und Dellviertel-West/Hochfeld-Nord beteiligten sich 2017 nur 51,9 beziehungsweise 56,4 Prozent der Berechtigten an der Abstimmung.

Dort betreibt Birgit Fuchs seit 20 Jahren ihren Kiosk – an der Johanniterstraße, im Grenzgebiet zwischen Dellviertel und Hochfeld. Sie weiß um die niedrige Wahlbeteiligung im Quartier und wirbt deshalb ganz offensiv: „Machst du Briefwahl oder gehst du am Sonntag hin?“, fragt Fuchs jede Kundin und jeden Kunden. Denen, die gar nicht wählen wollen, entgegnet sie: „Immer nur meckern bringt auch nichts.“ Und denen, die nicht wissen wie, hilft die alteingesessene Kiosk-Betreiberin: „Ich habe sogar mal eine Frau ins Wahllokal begleitet.“

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Nur drei Bundeskanzler in fast 40 Jahren: Gefühl der Ohnmacht

Einen Grund für die so niedrige Wahlbeteiligung vermutet Fuchs im schwindenden Sicherheitsgefühl der Menschen. Viel häufiger als früher würden Kunden ihr von Vandalismus, Raub oder Körperverletzung berichten. Auch sie selbst wurde vor etwa zwei Jahren überfallen – von Jungs aus der Nachbarschaft, wie sich später herausstellte. „Deren Eltern gingen bei mir einkaufen.“

Jürgen Kürten ist Stammkunde beim Kiosk an der Johanniterstraße. Er wolle wählen, verstehe aber auch die, die resignieren: „In den letzten fast 40 Jahren gab es nur drei Bundeskanzler, und unter denen gingen Arm und Reich immer weiter auseinander. Viele glauben nach so langer Zeit, dass Wählen eh nichts bringt.“ Dass am Sonntag mehr Duisburger zur Wahl gehen als beim letzten Mal, glaubt auch Kürten nicht.

>> NIEDRIGE WAHLBETEILIGUNG AUCH BEI KOMMUNALWAHL 2020

• Die Kommunalwahl im vergangenen Jahr wies nicht darauf hin, dass sich der Trend bei der Wahlbeteiligung umkehrt: Nur 39,2 Prozent der Duisburgerinnen in Duisburg stimmten ab.

• In den Nord-Bezirken Hamborn und Meiderich/Beeck nahmen jeweils weniger als 30 Prozent der Wahlberechtigten teil, ebenso in den beiden Hochfelder Wahlbezirken.

• Auch bei der Kommunalwahl erreichte die AfD ihr bestes Ergebnis in Neumühl. Der Anteil von 16,4 Prozent bedeutete jedoch einen deutlichen Verlust im Vergleich zur Bundestagswahl 2017.