Bochum. Einer der erfahrensten Richter Bochums geht in Pension. Die WAZ sprach mit ihm über Gewaltexzesse, elterliche Vorbilder und milde Strafen.

Sein Büroregal im Landgericht hat Johannes Kirfel schon fast ganz ausgeräumt. Nur wenige andere Richter in Bochum standen genau so häufig in den Medien wie er, weil viele seiner Fälle so schwerwiegend waren und teilweise bundesweit beachtet wurden. Vor allem mit Jugendkriminalität hat er in Bochum so viel erlebt wie keiner. Jetzt geht er in Pension. Mit 65 Jahren ist der leidenschaftliche Sportler weiterhin fit wie ein Turnschuh.

WAZ: Wie viele Urteile haben Sie wohl verkündet?

Johannes Kirfel: Ich bin Vorsitzender einer Strafkammer seit rund 25 Jahren. Wenn man davon ausgeht, dass ich bis zu 40 Urteile im Jahr verkündet habe, geht die Gesamtanzahl schon in Richtung 1000.

WAZ: Wer war der gefährlichste Verbrecher, der bei Ihnen angeklagt war?

Schwer zu sagen. Gefährlichkeit zeigt sich oft erst nach der Haftentlassung. Prominent im Vordergrund steht in meiner Laufbahn der Fall des damals 19-jährigen Angeklagten, der 2003 und 2004 sieben Menschen erschossen hatte. Hintergrund war Drogenhandel.

Jugendrichter folgte dem Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts, nicht dem Ruf nach harter Strafe

Vorsitzender Richter Johannes Kirfel im Innenhof des Justizzentrums in Bochum.
Vorsitzender Richter Johannes Kirfel im Innenhof des Justizzentrums in Bochum. © FUNKE Foto Services | Alexandra Roth

WAZ: Sie und Ihre Kammer haben eher moderate Strafen verhängt. Teile der Bevölkerung wollen aber harte Strafen. Was sagen Sie denen?

Ich kann nachvollziehen, dass man als Reflex auf gravierende Straftaten gerade aus der Verletztenperspektive harte Strafen fordert. Andererseits hat man es als Jugendrichter oft mit jungen Menschen zu tun, die noch in der Entwicklung stehen und vielleicht nicht nur durch harte Strafen, sondern auch durch Sanktionen unterhalb dieser Schwelle beeindruckbar und prägbar erscheinen. Der das Jugendstrafrecht beherrschende Erziehungsgedanke hat meine Arbeit in der Jugendstrafkammer immer maßgeblich beeinflusst, die Aspekte Schuld und Sühne treten dann oft in den Hintergrund.

WAZ: Jahrzehntelang hatten Sie intensiv mit Gewalt, Hass, Elend und Missbrauch zu tun. Wie hält man das von sich privat fern?

Immer schafft man das nicht. Die wirklich beeindruckenden Prozesse verfolgen mich manchmal auch bis in den privaten Bereich. Was mir immer geholfen hat, war der Sport. Die vielen Läufe durch die Natur, allein mit Musik oder mit Freunden.

Einfluss der Eltern auf die Kinder ist groß – im Guten wie im Schlechten

WAZ: Wie groß ist der Einfluss von Eltern auf ihre Kinder bei der Wahrscheinlichkeit, dass sie auf die schiefe Bahn geraten?

Er ist sicher da, in positiver wie in negativer Hinsicht, wenn die Eltern zum Beispiel kriminelle Verhaltensweisen vorleben. Bei allen positiven Bemühungen der Eltern ist der Einfluss dann begrenzt, wenn die Kinder – zum Teil unbemerkt – sich mehr an den negativen Verhaltensweisen ihrer Altersgenossen orientieren.

WAZ: Werden Kinder aus bildungsfernen und finanzschwachen Verhältnissen eher straffällig?

Ich würde das tendenziell bejahen. Dies kann damit zu tun haben, dass in einigen Familien nicht die Betreuung und Erziehung stattfindet, die man sich wünscht, die aber auch wegen der schwierigen sozialen Umstände manchmal vielleicht gar nicht stattfinden kann.

Schon mit 27 Jahren Richter

Schon mit 27 Jahren war Johannes Kirfel Richter.

Neben Jugendstrafsachen leitete er auch Prozesse gegen Erwachsene auf sämtlichen Gebieten des Strafgesetzbuches.

Darunter waren auch viele Missbrauchstäter.

WAZ: Haben Sie schon mal ein Urteil vom Tenor oder Strafmaß her bereut?

Von Bereuen würde ich nicht sprechen. Es hat nie die Situation gegeben, dass sich nach einer Verurteilung eine Unschuld herausgestellt hätte. Von Enttäuschtsein kann man eher sprechen; dann, wenn man nach zeitintensiven Gesprächen mit den Verfahrensbeteiligten einem jungen Angeklagten noch einmal eine Bewährungschance gegeben hat, dieser aber nachher erneut Straftaten begangen hat. Ich habe aber in vergleichbaren Fällen bis zum Schluss diese Hoffnung auf eine erfolgreiche Bewährung aufbewahrt.

Exzessive Gewaltbereitschaft hat sich „leider nicht verändert“

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WAZ: Hat sich die Gewaltbereitschaft der Angeklagten im Laufe der Jahrzehnte verändert?

Schon vor vielen Jahren hat sich das Phänomen der überschießenden, exzessiven Gewaltausübung gezeigt. Ich meine damit, dass der oder die Täter dem wehrlosen Opfer, das bereits auf dem Boden liegt, noch gegen den Kopf oder den Körper treten, und zwar mit großer Wucht. Das wird dann bagatellisierend mit „Ich habe dann noch mal reingetreten“ beschrieben. Diese Verhaltensweisen haben sich bis heute leider nicht geändert. Dem gegenüber hat sich die Anzahl der potenziell immer lebensbedrohlichen Angriffe junger Angeklagter auf andere mit einem Messer glücklicherweise reduziert. Vor drei, vier Jahren gab es viel mehr Strafprozesse mit diesem Hintergrund.