Gelsenkirchen. Den Großteil aller Mordfälle kann die Polizei aufklären – aber nicht alle. Vier Gelsenkirchener Frauenmorde, die bis heute ungelöst sind.
Dieser Text erschien erstmals im Mai 2021
Es sieht ein wenig aus, als sei die Zeit stehen geblieben. Die Türen zu den Apartments sind aus massivem, dunkelbraunem Holz gefertigt, der Boden ist mit kleinen hellbraunen Fliesen gekachelt. Im Erdgeschoss steht immer noch die Theke der mittlerweile zum Lager umfunktionierten Gaststube, in der in den Achtzigerjahren die verrenteten Bergmänner gemeinsam Bier tranken. In den Gängen der Wohnbereiche findet sich hier und da ein Möbelstück im Stil der Biedermeier-Ära.
An diesem Ort, im Awo-Seniorenzentrum Gelsenkirchen Buer – damals noch „Haus Darl“ –, geschieht am 22. Januar 1981 ein grausames Verbrechen. Die 77-jährige Seniorin Käthe H. wird in ihrem Wohnapartment erschlagen. Der Täter ist bis heute nicht gefasst.
Dieser Text ist Teil der historischen WAZ-Serie „Tatort Gelsenkirchen“ in der wir bewegende Mordfälle der letzten 66 Jahre noch einmal aufarbeiten. Wie gingen die Ermittler damals vor? Welche Motive standen hinter den Taten? Wie erinnern sich Zeitzeugen an die Fälle, wie blicken Experten heute darauf? Als Recherchequelle diente unter anderem das große Archiv der WAZ Gelsenkirchen, das bis in die Vierzigerjahre zurückreicht.
Opfer wird blutüberströmt in ihrem Sessel aufgefunden – aber erst am nächsten Morgen
Am Tag ihres Todes hat Käthe H. Besuch. Die alte Frau und ihre Gäste, ein etwa 50 Jahre altes Paar, sollen in ein „heftiges Gespräch“ verwickelt gewesen sein, bevor die beiden die Einrichtung wieder verlassen. Das sagen Zeugen später aus. Am nächsten Morgen wird Käthe H. von einer Mitarbeiterin tot aufgefunden.
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Sie hängt blutüberströmt in einem Sessel, über ihren Knien liegt eine Decke, neben ihr ein Buch, das sie offenbar kurz zuvor noch gelesen hat. Mit 23 Schlägen ist der Schädel der Seniorin zertrümmert worden. Die Tatwaffe: vermutlich ein Hammer. Der Täter kann unentdeckt entkommen – obwohl er, so schlussfolgert die Polizei, auffällig mit Blut befleckt sein muss.
Vieles deutet darauf hin, dass der Mörder nicht mit Gewalt in das Apartment seines Opfers eingedrungen ist. Das Türschloss von Käthe H.s Apartment ist unbeschädigt. Hat sie ihren Mörder also gekannt und selbst hereingelassen? Nicht zwangsläufig. Ihrer Tochter hatte H. nach Angaben der Polizei erzählt, dass ihr ihr eigener Schlüssel abhandengekommen sei.
Am Tatort fehlen mehrere Schmuckstücke: Ein Raubmord?
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Auffällig: Am Tatort fehlen einige mehr oder weniger wertvolle Schmuckstücke, darunter zwei Brillantringe und ein Anhänger mit arabischen Schriftzügen und einem blauen Stein. Ein mit dem Fall betrauter Kriminalhauptkommissar sagt gegenüber der Presse, dass das Opfer „unter den anderen Heimbewohnern durch Erzählungen den Anschein erweckte, reich zu sein“.
Derlei erzählt man sich im Haus Darl noch Jahre nach dem Tod von Käthe H.. Wolfgang Brandt (61) arbeitet seit 1987, sechs Jahre nach der Tat also, als Pförtner in dem Awo-Seniorenzentrum. Er erinnert sich an viele Geschichten über den Fall. Insbesondere habe ihm der damalige Hausmeister – ein Mann, der „alles mitbekam“ – berichtet: „Käthe H. soll nicht besonders beliebt gewesen sein. Sie ging wohl stark aus sich heraus, präsentierte überall ihren Schmuck.“ Dennoch: Ein Mord in einem vermeintlich geschützten Raum – wie kann das passieren?
Elke Bovensiepen ist wohl die einzige, die zum Zeitpunkt des Mordes schon im Haus Darl gearbeitet hat und bis heute dort tätig ist. Die 61-jährige Pflegeassistentin war 20 Jahre alt, als Käthe H. in ihrem Wohnapartment starb. Sie zeichnet ein Bild der Einrichtung, die in den Achtzigerjahren weit von dem entfernt war, was man sich heute unter einem Altenheim vorstellt. So erinnert sie sich an Bewohner, die kaum Unterstützung durch Pflegekräfte brauchten, die alleine auf der Cranger Straße Besorgungen machten und abends bei einem Bier in der hausinternen Gaststube zusammen saßen.
Gelsenkirchener Altenheim in den Achtzigerjahren: Eine ganz andere Welt
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„Vor 40 Jahren waren die Bewohner größtenteils mobil und geistig fit“, erklärt die Pflegeassistentin. Wolfgang Brandt ergänzt lachend: „Die Leute haben beim Einzug hier früher ihre Koffer alleine reingetragen.“ Man sei damals nicht – wie heute vielfach – erst ins Altenheim gezogen, wenn man stark pflegebedürftig war, sagt Bovensiepen. Sondern vielmehr, weil man zum Beispiel im Alter alleinstehend war und Kontakte gesucht habe. Und außerdem: „Das hier war Anfang der Achtziger ja ein modernes, gerade neu gebautes Haus – das war schon was.“
Die Polizei habe damals „alles gut auseinandergenommen“, erinnert sich Bovensiepen. „Das gesamte Personal musste Fingerabdrücke abgeben. Und wir mussten sagen, wo wir zum Tatzeitpunkt gewesen sind.“ Ob sie sich damals Sorgen gemacht hätten, dass jemand Fremdes in das Heim eingedrungen war, um ein so grausames Verbrechen zu verüben – oder sie den Täter sogar in den eigenen Reihen vermuteten?
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Dass der Mörder irgendeine Verbindung zum Heim oder zumindest zum Opfer gehabt haben muss, ist für Bovensiepen klar: „Er kam genau zur Abendbrotzeit, sodass alle beschäftigt waren und niemand ihn bemerkte.“ Wahrscheinlich sei es auch gar nicht so schwer für den Täter gewesen, unbemerkt in die Einrichtung hineinzukommen, denn: „Damals gab es ja noch keinen Pförtner und der Wohnbereich war getrennt von dem Bereich, in dem sich die Pflegekräfte aufhielten. Da hat niemand alles mitbekommen.“
Die große Panik sei nach dem Mord im Seniorenheim allerdings gar nicht aufgekommen. „Man hat nachts auf der Station vielleicht lieber zweimal hinter die Tür geguckt, ob da jemand steht“, erzählt Bovensiepen nüchtern. „Ich hatte aber nie Angst.“ Keinesfalls habe man angefangen, sich gegenseitig zu verdächtigen. Ob der Täter von außerhalb kam oder im Heim selbst zu suchen ist, konnte nie geklärt werden. Der Fall Käthe H. bleibt ungelöst.
1979 wird in Gelsenkirchen-Hassel eine 24-Jährige Gewerkschaftssekretärin erdrosselt
Auch Ende der Siebzigerjahre erschüttert ein ungelöster Frauenmord die Stadt. Am 11. Oktober 1979 wird die Leiche der 24-jährigen Gewerkschaftssekretärin Erika A. nur wenige Meter von ihrer Wohnung in Hassel gefunden. Sie liegt auf dem Gelände der Bezirkssportanlage Lüttinghofstraße, in einem Gebüsch in der Nähe der Tennishalle. Dort entdeckt sie der Platzwart. Neben der Toten liegen Jeanshose und Bluse, die der Mörder ihr vermutlich vom Leib gerissen hat. Die Obduktion im Gerichtsmedizinischen Institut in Essen ergibt, dass Erika A. erdrosselt worden ist.
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Erika A. arbeitet zum Zeitpunkt ihres Todes als Sekretärin in einer Firma in Herne. Nach Büroschluss nimmt sie regelmäßig an einem Fortbildungslehrgang des DGB teil. So auch an diesem Abend. Wie die Kripo mitteilt, hat die 24-Jährige das DGB-Haus an der Gabelsbergerstraße am Tatabend gegen 20.45 Uhr verlassen und ist danach nicht mehr lebend gesehen worden.
Hier geht es zu weiteren Folgen von „Tatort Gelsenkirchen“
Alle Folgen der Serie „Tatort Gelsenkirchen“ finden Sie hier:
- Gelsenkirchen 1991: Elfjähriger entführt und brutal ermordet
- Brutaler Serienmörder: Jürgen Bartschs Gelsenkirchener Opfer
- Wenn Kinder Kinder töten: Der Fall Canan D. in Gelsenkirchen
- Wie ein Pilot auf Gelsenkirchens Straßen gelyncht wurde
- Cold Cases: Das sind Gelsenkirchens ungelöste Frauenmorde
- Wie morden Frauen? Der Fall Cornelia A. in Gelsenkirchen
Als sie gefunden wird, fehlen mehrere Kleidungsstücke und Gegenstände, die Erika A. beim Verlassen des Hauses bei sich getragen hat: eine braune Umhängetasche – darin Toilettenartikel, eine Geldbörse und ein Scheckbuch – eine helle, hüftlange Popelinjacke, weiße Clogs und eine Silberkette mit einem Anhänger. Nachdem der Fall monatelang ungelöst bleibt, bitten die Ermittler im Februar 1980 in der Sendung „Aktenzeichen XY“ um Hinweise. Doch sie haben keinen Erfolg. Der Mord an Erika A. kann nie aufgeklärt werden.
1976: Studentin wird am helllichten Tag in einer Bueraner Boutique ermordet
Bis heute gibt auch der Mord an Gisela G. Rätsel auf. Die 24-Jährige Studentin aus Coesfeld arbeitet als Aushilfe in der Boutique „Girl“ in der Marienstraße in Buer. Am 2. Januar 1976 wird ihr erdrosselter Körper von zwei Kundinnen entdeckt. Die beiden wundern sich, weil keine Bedienung im Laden zugegen ist, gehen daraufhin in Richtung Lagerraum und sehen zwei Beine.
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Was die Frauen zunächst für eine Puppe halten, ist der Körper der getöteten Gisela G. Der Leichenfund gibt Rätsel auf: Die Tote ist zwar nackt, es gibt aber keine sicheren Anhaltspunkte für sexuellen Missbrauch. Geld oder andere Wertgegenstände sind ebenfalls augenscheinlich nicht entwendet worden. Nur ihr Feuerzeug der Marke Dupin fehlt.
Im Juni 1976 wird auch der Fall Gisela G. bei „Aktenzeichen XY“ ausgestrahlt. Ins Fadenkreuz der Ermittler gerät zwischenzeitlich ein Mann, der fünf Tage nach dem Mord an der Studentin eine 37-Jährige in ihrer Wohnung auf der Bueraner Hochstraße überfallen und gezwungen hat, sich auszuziehen. Die beiden Fälle werden deshalb gemeinsam in der ZDF-Sendung behandelt. Während das Sexualdelikt jedoch aufgeklärt werden kann, bleibt der Mord an Gisela G. ungelöst.
Immer noch ungelöst: Der Fall der verschwundenen Gelsenkirchener Polizistin Annette L.
Der wohl bekannteste ungelöste Fall Gelsenkirchens ist nach aktuellem Stand der Ermittlungen „nur“ ein Vermisstenfall. 2010 verschwindet die Gelsenkirchener Polizeibeamtin Annette L., ihr Auto wird einen Monat später ausgebrannt gefunden. Polizei und Staatsanwaltschaft glauben, dass ihr Ehemann Dirk L. – ebenfalls Polizist – Annette L. in der Nacht zum 30. Mai 2010 im Schlafzimmer der Ehewohnung getötet und die Leiche an einen unbekannten Ort gebracht hat. Dirk L. hatte mehrere Affären, seine Geliebte war schwanger von ihm. Die Polizei kann ihm jedoch nichts nachweisen: Für den Tod von Annette L. fehlen bis heute eindeutige Beweise, ihre Überreste sind nie gefunden worden.