Gelsenkirchen-Schalke. Mit Sterben, Tod und Trauer müssen Pflege-Profis in Gelsenkirchen umgehen. Doch Corona bringt sie an Belastungsgrenzen. Zwei Pfarrerinnen helfen.

345 Menschen sind bislang in Gelsenkirchen an oder mit Covid-19 gestorben. Viele von ihnen lebten zuvor in Altenheimen der Stadt. Auch im Awo-Haus in Schalke an der Grenzstraße. 163 Plätze hat das Seniorenzentrum, 170 Frauen und Männer arbeiten dort mit und für die alten Menschen – und das seit einem Jahr unter Pandemiebedingungen.

Sterben und Abschied nehmen gehört in ihrem Lebensalltag dazu. Doch was passiert, wenn Corona grassiert, das Virus in kurzer Zeit etliche Opfer fordert, wenn ein Haus mit Bewohnern, Angehörigen und Beschäftigten auch emotional im Ausnahmezustand ist?

Dann brauchen auch Pflegeprofis Hilfe, wie sie in dieser Situation zwei Pfarrerinnen boten. Ihr Ansatz: Über die Trauer reden, sie begreifbar machen.

Corona-Ausbruch vor Weihnachten in Gelsenkirchener Seniorenheimen

Achim Schwarz leitet das Awo-Seniorenheim in Gelsenkirchen-Schalke. Durch die Corona-Pandemie und etliche Todesfälle unter den Bewohnern, sagt er, sei seine Belegschaft über den Jahreswechsel „am Limit“ gewesen.
Achim Schwarz leitet das Awo-Seniorenheim in Gelsenkirchen-Schalke. Durch die Corona-Pandemie und etliche Todesfälle unter den Bewohnern, sagt er, sei seine Belegschaft über den Jahreswechsel „am Limit“ gewesen. © Cornelia Fischer

„Welche Ausmaße die Pandemie bekommen würde, war im Frühjahr niemandem klar“, sagt Awo-Einrichtungsleiter Achim Schwarz. „Die Konzepte zum Schutz lagen auch ganz schnell auf dem Tisch. Insgesamt sind wir ganz gut durch den Sommer und Herbst gekommen. Ab dem Nikolaus-Wochenende wurden es dann plötzlich immer mehr Fälle. Da überlegt man fieberhaft: Haben wir etwas falsch gemacht? Man checkt immer wieder seine Pandemiepläne. Letztlich findet man den Grund für so einen massiven Ausbruch nicht, das macht die Situation aber auch gefährlich.“ Vor allem bringt sie alle Beteiligten an die Belastungsgrenze.

66 Pflegekräfte und Bewohner infizierten sich im Awo-Heim in Schalke

318 Bewohner und Pflegekräfte waren am Tag vor Heiligabend in Gelsenkirchener Senioren- und Pflegeheimen mit dem Coronavirus infiziert. Tags zuvor war bereits bekannt geworden, dass sich im Awo-Seniorenheim in Schalke zu diesem Zeitpunkt bereits 66 Pflegekräfte und Bewohner angesteckt hatten. Aus zwei Wohnbereichen wurde im Haus eine Isolierstation gebildet, um den Corona-Ausbruch einzudämmen. Etliche Senioren starben dennoch. Genaue Zahlen nennt Achim Schwarz nicht.

„Uns war wichtig, dass sich wenigstens der engste Familienkreis von den Verstorbenen verabschieden konnte. Alles andere war in der Lage nicht machbar. Insgesamt war das für alle eine problematische Situation.“ Und Schwarz merkte bald, „dass die Kollegen an ihrem Limit waren. Viele konnten einfach nicht mehr. Mir war klar: Die mussten noch einmal miteinander sprechen, möglichst außerhalb der Einrichtung und mit einer neutralen Gesprächsleitung.“

Pfarrerinnen begleiten Menschen auf ihrer letzten Lebensstrecke

Trauergesprächskreise bietet Pfarrerin Andrea Hellmann regelmäßig an. Der nächste wird voraussichtlich am 14. April in Schalke beginnen. Es sind noch Plätze frei.
Trauergesprächskreise bietet Pfarrerin Andrea Hellmann regelmäßig an. Der nächste wird voraussichtlich am 14. April in Schalke beginnen. Es sind noch Plätze frei. © Cornelia Fischer

Zwei Jahre zuvor hatten Mitarbeitende bereits nach dem Tod einer beliebten jungen Kollegin in einer Gesprächsgruppe über ihre Trauer gesprochen. An die positive Erfahrung hat Schwarz angeknüpft und Kontakt zu Andrea Hellmann aufgenommen. Die evangelische Pfarrerin im Bezirk Schalke und ihre Amtskollegin Kirsten Sowa betreuen das Awo-Heim und die Menschen dort, feiern Gottesdienste, begleiten Menschen auf ihrer letzten Lebensstrecke – und beerdigen auch verstorbene Bewohner. „Das sind unsere Gemeindeglieder, für die wir uns zuständig fühlen“, sagt Hellmann und sieht den seelsorgerischen Aspekt: „Sorge um Trauernde ist ein zutiefst christliches Anliegen.“ Mit Sowa bot sie zwei Trauergruppen an. Zwölf Beschäftigte nahmen das Angebot wahr.

Trauergesprächskreise in der Evangelischen Emmaus-Kirchengemeinde

Hellmann, die in der Evangelischen Emmaus-Kirchengemeinde regelmäßig Trauergesprächskreise anbietet, weiß, wie es Menschen in Trauer geht, wenn sie ihre Situation reflektieren. „Was hilft mir, damit ich klar komme? Und wie kann es weitergehen“? Das seien zentrale Fragen, auf die Betroffene Antworten suchten – auch in den Runden mit den Heimmitarbeitern.

„Für uns war der Schwerpunkt die eigene Trauer der Pflegekräfte, die in dieser Extrem-Situation auch nicht die Möglichkeit hatten, Abschied zu nehmen. Viele kamen zurück aus der Quarantäne und Menschen, zu denen sie lange Kontakt hatten, waren einfach nicht mehr da“, sagt Sowa. Der Altersschnitt der Bewohner liegt „deutlich über 80 Jahre“, sagt Schwarz. „Die meisten leben mehrere Jahre bei uns im Haus.“

Eine brennende Kerze – für die Gesprächsteilnehmer eine Art Türöffner

Die beiden Pfarrerinnen „haben die Menschen ein Stück weit mitgenommen und Rituale wieder zum Leben erweckt, für die es in der Pandemie wenig Zeit gab. In der Mitte unseres Stuhlkreises brannte eine Kerze. So ein Zeichen ist mit Rührung verbunden, war aber für die Gesprächsteilnehmer auch eine Art Türöffner.

Pfarrerin Kirsten Sowa ist Seelsorgerin in der Evangelischen Emmaus Kirchengemeinde, zu der auch das Awo-Heim gehört.  
Pfarrerin Kirsten Sowa ist Seelsorgerin in der Evangelischen Emmaus Kirchengemeinde, zu der auch das Awo-Heim gehört.   © Cornelia Fischer

Pflegekräfte, glaubt Sowa, gingen als Profis zwangsläufig häufig mit Tod und Sterben um. Aber sie hätten eben oft auch eine engere Beziehung zu den Bewohnern. „Eine Situation, wo in kurzer Zeit so viele Menschen aus ihrem Leben verschwinden, haben sie noch nicht erlebt. Darauf ist man auch als ausgebildete Fachkraft nicht vorbereitet und nicht in der Lage, allein professionell zu reagieren.“

Jeder habe zunächst einmal seine Gefühle und Wahrnehmungen ausgesprochen. Aussprache, findet Hellmann, sei schon ein Stück weit Verarbeitung. „Es zeigt auch: Du bist nicht allein mit dem Erlebten, mit deinem Schmerz. Dieses Wissen hat auch etwas befreiendes.“

Offene Angebote für Trauernde

Wenn es die Corona-Situation zulässt, wird die Evangelische Emmaus-Kirchengemeinde wieder ihr Trauercafé anbieten. Geplant ist auch ein weiterer Trauergesprächskreis, den Pfarrerin Andrea Hellmann an acht Abenden jeweils an einem Mittwoch ab 18 Uhr anbieten will. Treffpunkt ist das Katharina von Bora-Haus an der Königsberger Straße 102. Der erste Termin ist (abhängig von Pandemie-Regelungen voraussichtlich) am 14. April.

Die Teilnahme ist kostenlos, eine Anmeldung ist erforderlich. Kontakt und Info: Andrea Hellmann, 0209 8180810 oder andrea.hellmann@kk-ekvw.de

ra

Die Kollegen haben ihre Erfahrungen ins Haus getragen. Die Resonanz war sehr positiv“, so der Einrichtungsleiter. Ohnehin hat sich die Lage seit Weihnachten deutlich verändert: „Wir sind seit einigen Wochen wieder Corona-frei, die Bewohner und die Belegschaft sind geimpft“, jede Woche werden 500 bis 600 Schnelltest durchgeführt, auch damit wieder mehr Ehrenamtler und Dienstleister wie Friseure oder die Fußpflege ins Haus kommen könnten. „Das alles gibt ein Stück weit mehr Sicherheit, da ist schon eine deutliche Entspannung zu spüren“, sagt Schwarz.

Vor allem wird langsam wieder mehr Nähe möglich: „Fensterbesuche“, findet Schwarz, „ersetzen nicht das Vis-à-vis, nicht die Berührung, den Kontakt. Das war für viele sehr belastend und besonders den dementiell erkrankten Bewohnern schwer klar zu machen.“

Ein Kieselstein mit dem Namen des Verstorbenen findet Platz im Garten

Zur Tradition im Awo-Seniorenheim „gehört beispielsweise, dass wir von jeder verstorbenen Person ein Bild zusammen mit einer Kerze aufstellen, der Name jedes Verstorbenen wird auf einen Kiesel geschrieben, der später im Garten an unserem Erinnerungsort niedergelegt wird. Am Sitzplatz im Speiseraum steht normalerweise auch eine Kerze oder ein Engel.“

Einiges davon, sagt Schwarz, sei auch „in der Coronazeit so weiter gemacht worden. Aber es hat eben nicht jeder wahrnehmen können. Und untereinander war für die Bewohner auch kein Abschiednehmen möglich.“ Eine würdige Form der Erinnerung soll es noch geben. Schwarz und die beiden Pfarrerinnen denken über eine Gedenkfeier für die Verstorbenen nach.