Gelsenkirchen. Seit 2010 wird Annette L. aus Gelsenkirchen vermisst. Ihr Mann, ein Ex-Polizist, ist der Verdächtige. Erinnerungen an einen ungelösten Fall.

Redet man mit Gelsenkirchener Kriminalbeamten über „Cold Cases“, also über kalte, nie aufgeklärte Fälle, allen fällt gleich ein Name ein, ein Fall, der sie bis ins Mark erschüttert. Es ist die tragische Geschichte der Annette L., die seit 2010 vermisst wird. Es ist das dunkle Geheimnis über dem Verschwinden der vierfachen Mutter, das Polizisten bis heute umtreibt. Denn nicht nur Annette L. war eine von ihnen, auch der einzige Verdächtige – Ehemann Dirk – war ein Polizist. Erinnerungen an einen Fall, der eine Wunde hinterließ in der Geschichte der Gelsenkirchener Polizei.

Irgendwo draußen wird sie liegen. Vermutlich vergraben. An einem Ort fernab öffentlicher Wege. An einem Ort, an dem niemand Abschied nehmen kann. Zehn Jahre ist es jetzt her, dass die Gelsenkirchener Polizistenfrau Annette L., Mutter von vier Kindern verschwand. Und noch immer fehlt jede Spur von ihr.

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© FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

Polizei und Staatsanwaltschaft sind überzeugt, Ehemann Dirk ist der mutmaßliche Täter. Lange glaubten die Ermittler dem Polizeibeamten von der Gelsenkirchener Wache Nord in Buer nachzuweisen, dass er seine Ehefrau in der Nacht zum 30. Mai 2010 im Schlafzimmer der Ehewohnung getötet und die Leiche an einen unbekannten Ort gebracht hat. Doch immer wieder zerschlugen sich die Hoffnungen, auch bei großangelegten Suchen Jahre nach dem Verschwinden, den entscheidenden Beweis zu finden.

Die Leiche der Gelsenkirchenerin Annette L. wurde nie gefunden

Und so wurde nie Anklage gegen Dirk L. erhoben. Denn: „Ohne Leiche keine Anklage“, so die Staatsanwaltschaft sinngemäß. „Kein anderer Fall“, so sagt der damalige Polizeipräsident Rüdiger von Schoenfeldt im Gespräch mit der WAZ, „habe ihn und das Präsidium so sehr aufgewühlt“. Fassungslos seien die Kollegen gewesen, als sich der Verdacht gegen Dirk L. immer weiter erhärtete. „Lange Zeit hatten sich Kollegen noch hinter den Verdächtigen gestellt, weil sie nicht glauben konnten, dass er dazu fähig gewesen wäre, seine Frau zu töten. Doch mit der Zeit kam immer mehr ans Licht. Und das Entsetzen in der Belegschaft wurde immer größer“, erinnert sich von Schoenfeldt.

Als der erste Verdacht auf den Polizisten Dirk L. fällt, gibt die Gelsenkirchener Polizei das Verfahren an die Essener Mordkommission ab, um gar nicht erst den Verdacht der Kumpanei aufkommen zu lassen. Auszuschließen sei, glaubt die Kripo, dass Annette L., die selbst bis zu einem Unfall Polizistin in Buer war, Suizid beging oder ihre Familie verließ. Denn dazu passt nicht, dass vermutlich am 3. Juni an einer Halde in Scholven die Matratzen aus dem Ehebett der L.’s verbrannt wurden.

Im Brandschutt findet sich auch noch ein Jeansknopf mit DNA-Spuren, die zu Annette L. passen könnten. Ehemann Dirk ordnen die Ermittler zudem den Kauf zweier Matratzen am 31. Mai im Dänischen Bettenlager zu.

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Am 25. Juni entdecken Spaziergänger im Waldgebiet „Haard“ bei Marl den Mercedes „Viano“, den Annette L. fuhr. Er ist vollständig ausgebrannt, Spuren gibt es nicht. Für die Kripo ist klar: Bei den Matratzen und beim Auto musste ein Täter Spuren vernichten, die auf den gewaltsamen Tod der Vermissten hinwiesen.

Fünf Jahre nach dem Verschwinden der Polizistin und vierfachen Mutter Annette L. aus Gelsenkirchen geht die Polizei neuen Hinweisen nach. Eine Hundertschaft durchkämmt in Bismarck den Wald zwischen Emscher und Rhein-Herne-Kanal, eine Gruppe verteilt Flugblätter im Herner Stadtteil Wanne-Eickel und Taucher durchsuchen den Kanal. Doch die Beamten finden keine neuen Beweise.
Fünf Jahre nach dem Verschwinden der Polizistin und vierfachen Mutter Annette L. aus Gelsenkirchen geht die Polizei neuen Hinweisen nach. Eine Hundertschaft durchkämmt in Bismarck den Wald zwischen Emscher und Rhein-Herne-Kanal, eine Gruppe verteilt Flugblätter im Herner Stadtteil Wanne-Eickel und Taucher durchsuchen den Kanal. Doch die Beamten finden keine neuen Beweise. © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

Spürhunde, denen eine Geruchsprobe von Dirk L. vorgehalten wird, laufen vom Autowrack im Wald zum acht Kilometer entfernten Haus seines Vaters in Marl, in dem Dirk L. sich oft aufhielt. Der Verdacht: Mit dem Fahrrad radelte er vom Brandort zum Haus des Vaters, wo er seinen eigenen Pkw abgestellt hatte.

Schon in den Tagen vor dem Fund des Autos hatte die „MK Buer“ ein Lügengeflecht des Dirk L. ans Tageslicht gebracht. Trotz Überschuldung lebte er auf 180 Quadratmetern in einer wohlhabenderen Wohngegend von Buer. Zusätzlich hatte er seit Anfang des Jahres gegenüber der Polizeiwache Nord ein Appartement angemietet. Und er hatte seit über einem Jahr ein Verhältnis mit einer 33 Jahre alten Kollegin, die seit dem Frühjahr schwanger von ihm war.

Affären, Lügen, Schulden

Sexuelle Kontakte hatte er zeitgleich auch noch zu zwei anderen Frauen. „Dirk, der stille Frauenheld“, nannte den Verdächtigen ein männlicher Kollege. Eine Freundin seiner Frau bezeichnete ihn als „Traumehemann“. Nur ehrlich war der 43-Jährige nicht. Seine Geliebte gab freimütig Auskunft. Wenn er einen gemeinsamen Urlaub versprochen hatte oder sie seine Ehefrau zur Aussprache treffen wollte, sei immer etwas dazwischen gekommen. Kurzfristig habe Dirk L. wegen schlimmer Schicksalsschläge abgesagt: Tod seines Vaters, seiner Schwester, seines Schwagers, Brustkrebs der Ehefrau. Nichts davon stimmte. Und seiner Geliebten, die immer mehr auf ein Treffen mit seiner Frau drängte, soll er sogar schon am 12. Mai erzählt haben, Annette L. sei verschwunden.

Wieder eine Lüge. Sie selbst sah die Nebenbuhlerin später in Buer. Und versuchte Ende Mai mehrfach, Annette L. zu treffen. Eine Katastrophe für ihren Ehemann. Denn die Trennung von seiner Frau hätte für ihn den finanziellen Ruin bedeutet, sind sich die Fahnder sicher.

Aber auch die Geliebte gerät in Verdacht, irgendetwas mit dem Verschwinden der Frau zu tun zu haben. Auch sie verwickelt sich in Widersprüche, hat Erinnerungslücken.

Verurteilung wegen Brandstiftung und Besitz von Kinderpornografie

Ein Jahr später wird Dirk L. verurteilt, aber nicht wegen Mordes, sondern wegen versuchter schwerer Brandstiftung und Besitz von Kinderpornografie. Im Haus einer Bekannten soll er Feuer gelegt haben, weil er eine Ausrede brauchte, um ein Treffen mit seiner Freundin abzusagen. Benzin hatte er laut Anklage im hölzernen Treppenhaus verschüttet. Gefährlich, weil oben der Sohn (12) der Bekannten schlief. Zum Glück zündete die Lunte nicht.

„Ich habe noch einen winzigen Funken Hoffnung, dass der Fall eines Tages aufgeklärt werden kann“, sagt der frühere Polizeipräsident. „Manchmal brechen Täter auch Jahre später unter der Last der Schuld noch ein und gestehen“, so Rüdiger von Schoenfeldt.

Mit dieser Hoffnung steht von Schoenfeldt nicht allein. So sagte ein Ermittlungsbeamter einmal: „Jeden von uns könnte man auch heute noch mitten in der Nacht wecken und wir würden sofort mit der Schaufel anfangen zu graben“.