Gelsenkirchen. Gelsenkirchen im Jahr 1945: Als ein britischer Kampfpilot abstürzt, erweisen ihm NS-Schergen keine Gnade – sondern prügeln brutal auf ihn ein.
Es ist Februar 1945, kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Das Ruhrgebiet ist seit Ende des Vorjahres verstärkt Ziel von Luftangriffen der Alliierten, die bis Kriegsende in ihrer Intensität nicht nachlassen werden. Am 6. November 1944 fallen 1700 Bomben, die weite Teile des Gelsenkirchener Südens vollends zerstören. Selbst den glühendsten Verfechtern der Nazi-Ideologie muss zu diesem Zeitpunkt klar sein, dass dieser Krieg nicht mehr zu gewinnen ist.
Dieser Text ist Teil der historischen WAZ-Serie „Tatort Gelsenkirchen“, in der wir bewegende Mordfälle der vergangenen 66 Jahre noch einmal aufarbeiten. Wie gingen die Ermittler damals vor? Welche Motive standen hinter den Taten? Wie erinnern sich Zeitzeugen an die Fälle, wie blicken Experten heute darauf? Als Recherchequelle diente unter anderem das große Archiv der WAZ Gelsenkirchen, das bis in die Vierzigerjahre zurückreicht.
Gelsenkirchener Geschichtsverein hat Fall des gelynchten Fliegers recherchiert
Statt Resignation macht sich unter NS-Funktionsträgern 1945 eine destruktive Wut breit, Feindbilder verstärken sich nur noch mehr. Einer der erklärten Feinde des Deutschen Reiches wird an diesem 27. Februar 1945 dafür büßen müssen, dass er gegen das sich im Zerfall befindliche Nazi-Deutschland kämpft. Norman Coatner Cowley, britischer Kampffliegerpilot, stürzt mit seiner Maschine ab – und wird auf den Straßen Gelsenkirchens von NS-Schergen gelyncht.
Was genau sich an diesem schicksalhaften Tag zugetragen hat, hat Andreas Jordan recherchiert. Der Gelsenkirchener Hobby-Historiker ist Vorsitzender des Geschichtsvereins „Gelsenzentrum“ und hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Stadtgeschichte zu erforschen. Für die Recherche hat er die Ermittlungsakte der britischen Einheit für Kriegsverbrechen aus dem britischen Nationalarchiv angefordert, die auch der WAZ vorliegt.
1946 haben die britischen Ermittler den Fall des, wie es in der Akte noch heißt, „unbekannten britischen Piloten“ aufgearbeitet. Seine Identität konnte erst viele Jahrzehnte nach dem Prozess gegen die Personen geklärt werden, die an seiner Tötung beteiligt waren. Anhand der zehn Zeugenaussagen und des Ermittlungsberichtes lassen sich die grausamen Geschehnisse rekonstruieren.
Fliegeralarm in Gelsenkirchen: Ein britisches Kampfflugzeug wird abgeschossen
Albert Meier, 27 Jahre alt, verheiratet, kaufmännischer Angestellter, hat an diesem Tag Dienst im Wehrmeldeamt Buer-Resse. Dorthin ist der Mann Mitte 1944 versetzt worden, der laut Zeugenaussage „niemals Mitglied in der NSDAP oder einer ihrer Unterorganisationen“ gewesen ist. Dort beförderte man ihn zum Feldwebel.
Es ist etwa 14.30 Uhr, als die Alarmsignale schrillen. Fliegeralarm. In Resse fallen Bomben. Den Nationalsozialisten gelingt es, ein britisches Kampfflugzeug abzuschießen. Die viermotorige Maschine wird in der Luft getroffen, explodiert und stürzt auf das Gelände der Zeche Ewald. Zwei der Insassen sterben. Doch es gibt auch Überlebende.
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„Nach Ende des Fliegeralarms begab ich mich zu meiner Dienststelle zurück. Nach etwa einer halben Stunde kam Oberoffizier Braune mit einem mir unbekannten Obergefreiten und zwei Flakhelfern und brachte mir einen abgesprungenen Piloten“, berichtet Albert Meier in seiner Zeugenaussage. Dieser Pilot, unter 1,70 Meter groß, mit dunkelblonden Haaren und einer grau-blauen Fliegerkombination, ist Norman Coatner Cowley. Im Mundwinkel des Mannes, der sich wohl mit einem Fallschirm aus der abgeschossenen Maschine gerettet hat, klebt verkrustetes Blut.
Zeugenaussage: Oberstleutnant soll den Piloten geschlagen und getreten haben
Meier unterrichtet nun Herrn Schlichteweg, den Oberstleutnant der Dienststelle, über die Ankunft des verletzten Briten. Schlichteweg schreit in den Telefonapparat: „Wo ist das Schwein?“ Kurz darauf, so berichtet es Meier, betritt der Oberstleutnant persönlich die Dienststelle und geht auf den alliierten Piloten los. Er springt auf ihn zu, tritt ihn, schlägt ihn, und schreit: „Sie Schwein!“
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An Meier gewandt fragt Schlichteweg, ob dieser nicht „ein paar Rabauken wüsste, die den Flieger nicht lebend zum Fliegerhorst bringen“ würden. Denn dort soll der Pilot – so geben es die Regeln vor – nun hingebracht werden. Meier gibt sich gegenüber den britischen Ermittlern unschuldig: Er habe keine Antwort gegeben und sei einfach mit dem Kriegsgefangenen losgegangen. Draußen spielen sich bereits bedrohliche Szenen ab: „Vor dem Wehrmeldeamt hatte sich eine mehrhundertköpfige Menschenmenge angesammelt, die dem Piloten gegenüber eine feindselige Haltung einnahmen.“
Gelsenkirchener Historiker: Die letzten Kriegsmonate waren die blutigsten
Dass abgestürzte Flieger den sicheren Tod fürchten mussten, wenn sie in die falschen Hände gerieten, war gerade gegen Ende des Zweiten Weltkrieges durchaus nicht unüblich, weiß Daniel Schmidt, Leiter des Gelsenkirchener Instituts für Stadtgeschichte. „Die Alliierten hatten die deutsche Abwehr fast vollständig niedergeschlagen, sodass die Luftangriffe sehr heftig waren“, beschreibt er die Situation. „Dann kam auch noch der Winter, die Bevölkerung kämpfte ums Überleben.“
Die NS-Amtsträger hätten gewusst, dass die Volksgemeinschaft kurz vor dem Zusammenbruch stehe, betont Schmidt. „Als Folge hat sich die Gewaltbereitschaft extrem erhöht, die Nationalsozialisten gingen komplett fanatisiert dem Ende entgegnen.“ Nicht nur seien Fliegerlynchmorde als klassisches „Endphaseverbrechen“ zu dieser Zeit deutlich öfter vorgekommen. Auch Morde an Zwangsarbeitern und politischen Oppositionellen hätten sich gehäuft. „Die letzten zehn Monate waren die blutigsten“, so Schmidt.
Zeugenaussagen widersprechen sich: Wie viele Mordversuche gab es wirklich?
Auf dem Weg zum Fliegerhorst, so die Schilderung des Zeugen Meier, unternehmen nationalsozialistische Funktionsträger alles, damit der Brite nicht lebend ankommt. So habe ein SA-Mann versucht, ihn mit seinem Motorrad zu überfahren. Kurz vor dem Ziel hat sich laut Ermittlungsbericht erneut eine Gruppe von Deutschen versammelt, die beginnt, den Kriegsgefangenen zu treten.
Ab hier lässt sich der Ablauf des Geschehens nicht lückenlos rekonstruieren. Wie die britischen Ermittler in ihrem Bericht vermerken, widersprechen sich die Aussagen. Meier behauptet, ein Sturmführer des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK) und ein SA-Mann seien aus einem Pkw gesprungen und hätten den Piloten in einen mit Wasser gefüllten Bombentrichter gestoßen. Der Sturmführer ist Johannes Engel, 35 Jahre alt, NSDAP-Mitglied und ehemaliger Polizeisekretär bei der Gelsenkirchener Polizei.
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„Ich sprang dem Sturmführer in den Arm und zog meine Pistole, um eine Misshandlung und Tötung zu verhindern. Zur gleichen Zeit drückte der SA-Mann den Piloten wieder in den Trichter hinein“, sagt Meier aus. „Ich sagte zu dem Sturmführer, dass der Mann sich unter militärischem Schutz befände und er machen solle, dass er weiterkomme.“
Beschuldigte Gelsenkirchener Nationalsozialisten geben jeweils nur einen Schlag zu
Engel und andere Anwesende widersprechen dieser Darstellung. Der NSKK-Sturmführer sagt aus, er habe den Briten nur mit einem Schlag getroffen. Laut Akte soll danach Heinrich Siebert, ein SA-Mann aus der Einsatztruppe des passiven Luftschutztrupps, weiter auf den Briten eingeprügelt haben. Was weiter mit Cowley geschieht, ist nicht ganz klar. Einen Hinweis gibt die Aussage der Zeugin Hanna Overrath: „Ich interessierte mich für das Schicksal des Fliegers und habe erfahren, von einer Pflegerin des Marienhospitals in Buer, dass er angeblich an Nierenbluten gestorben sein soll“, heißt es dort.
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Der Beschuldigte Johannes Engel verweist in seiner Aussage auf eine lange Reihe von Schicksalsschlägen, Unfällen und Verletzungen, die sein Gehirn beeinträchtigt hätten. Er berichtet, wie eine Gruppe von NS-Funktionsträgern den englischen Piloten in Richtung Fliegerhorst vorwärts gestoßen habe. „Es ist möglich, dass ich sogar selbst einen Schub gegeben habe“, gibt er zu. „Ich sagte dann, es ist nicht schön, einen Wehrlosen zu schlagen und machte mir selbst Vorwürfe, dass ich diese Angelegenheit nicht unterbunden habe, jedoch wie bereits erwähnt, bin ich bei ungewöhnlichen Vorfällen in Folge meiner Krankheit nie ganz meiner Sinne mächtig.“
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SA-Mann Siebert gesteht bei der Befragung ebenfalls nur einen einzigen Schlag: „Ich packte den Flieger an die Schultern, um ihn zu begucken. Zur gleichen Zeit wurde er von jemandem geschlagen. Ich habe da noch nicht geschlagen und auch nicht gestoßen. Kurz vorm Fliegerhorst sagte ich dann: ‘Mensch, verdammt nochmal’, da habe ich ihm einen Schlag gegeben. Darauf sagte ein Gefreiter vom Fliegerhorst: ‘Hören Sie mal, hier wird nicht geschlagen’.“ Er sei dann auf seinem Motorrad weggefahren.
Nur zwei Täter werden am Ende für ihr Verbrechen vor Gericht gestellt
Hier geht es zu weiteren Folgen von „Tatort Gelsenkirchen“
Alle Folgen der Serie „Tatort Gelsenkirchen“ finden Sie hier:
- Gelsenkirchen 1991: Elfjähriger entführt und brutal ermordet
- Brutaler Serienmörder: Jürgen Bartschs Gelsenkirchener Opfer
- Wenn Kinder Kinder töten: Der Fall Canan D. in Gelsenkirchen
- Wie ein Pilot auf Gelsenkirchens Straßen gelyncht wurde
- Cold Cases: Das sind Gelsenkirchens ungelöste Frauenmorde
- Wie morden Frauen? Der Fall Cornelia A. in Gelsenkirchen
Auch gegen Meier, den wichtigen Zeugen, ermittelt die britische Einheit für Kriegsverbrechen. Die Ermittler vermuten, er sei an dem Verbrechen beteiligt gewesen und gebe bloß vor, er habe den Piloten beschützen wollen. Doch gegen ihn, genau wie gegen einen beschuldigten SS-Mann, liegen offenbar nicht genug Beweise vor. Sie werden am Ende nicht vor Gericht gestellt.
Siebert und Engel werden für ihre Taten verurteilt. Lange Strafen bekommen sie allerdings nicht. Jeweils sechs Monate Haft lauten die Urteile der Militärgerichte, weil ihnen kein Mord, sondern lediglich die Misshandlung des Kriegsgefangenen nachgewiesen werden kann. Oberleutnant Schlichteweg, der den Flieger bereits bei seinem Eintreffen im Wehrmeldeamt geschlagen und getreten haben soll, kann nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden. Er stirbt im März 1945 während eines Gefechts.
Norman Coatner Cowley, das konnte Andreas Jordan ermitteln, hat seine letzte Ruhe auf dem Reichswald Forest War Cemetery gefunden. Es ist einer der größten Kriegsgräberfriedhöfe des Commonwealth in Deutschland, nahe Kleve. Hier erinnert ein Grabstein an den Mann, der der NS-Ideologie in den letzten Monaten des Krieges zum Opfer fiel.