Gelsenkirchen. 1962 wird eine Ärztin mit 50 Stichen brutal getötet. Die Annahme der Polizei: Der Täter muss ein Geisteskranker gewesen sein – oder eine Frau.
Die Leiche der Frauenärztin liegt blutüberströmt auf dem Schreibtischstuhl. Dr. Cornelia A., 67 Jahre alt, praktizierende Gynäkologin, ist am 5. Januar 1962 in ihrer Praxis in der Altstadt ermordet worden. Die Situation am Tatort offenbart ein grausames, scheinbar in blinder Raserei verübtes Verbrechen: Das Gesicht der Ärztin ist mit 50 Stichen und Schnitten verstümmelt worden, anschließend hat der Täter noch ein Kissen darauf gedrückt. Wer hat diese so brutale Tat an einer Frau verübt, die keine Familie hat und augenscheinlich so zurückgezogen lebt, dass sie sich niemanden zum Feind gemacht haben kann?
Dieser Text ist Teil der historischen WAZ-Serie „Tatort Gelsenkirchen“ in der wir bewegende Mordfälle der vergangenen 66 Jahre noch einmal aufarbeiten. Wie gingen die Ermittler damals vor? Welche Motive standen hinter den Taten? Wie erinnern sich Zeitzeugen an die Fälle, wie blicken Experten heute darauf? Als Recherchequelle diente unter anderem das große Archiv der WAZ Gelsenkirchen, das bis in die Vierzigerjahre zurückreicht.
Ein Opfer, das sich nicht so leicht in Schubladen stecken lässt
„Cornelia A. hat als Opfer bereits alle Erklärungsmodi gesprengt, die den Herren Ermittlern damals zur Verfügung standen“, sagt die Geschichtsprofessorin und Expertin für forensisch-psychiatrische Theorien Prof. Dr. Maren Lorenz, die an der Ruhruniversität Bochum den Lehrstuhl für Geschichte der frühen Neuzeit und Geschlechtergeschichte innehat. „1962 war es nicht selbstverständlich, dass eine Frau selbstständig war, ihr eigenes Konto führte und keinen Mann als Rechtsvorstand hatte. Möglicherweise hat sie aus gutem Grund nicht geheiratet.“
Am 8. Januar 1962 schreibt die WAZ: „Die Ärztin, die nur einen kleinen privaten Bekanntenkreis hatte, lebte völlig zurückgezogen. Auch mit Fachkolleginnen und -kollegen traf sie nur selten zusammen. An den Sonntagen arbeitete sie in ihrer Praxis die während der Woche angefallene Schreibarbeit auf oder machte mit einem Taxi Krankenbesuche.“
Eine „liebenswürdige und zuvorkommende Helferin“ – Wer hat also ein Motiv?
Einige Tage später ist davon die Rede, Cornelia A. habe als „liebenswürdige und zuvorkommende Helferin“ gegolten. Obwohl sie selbst gebrechlich gewesen sei und erhebliche Schwierigkeiten mit dem Treppensteigen hatte, habe sie ihre Patienten zu „Rat, Hilfe und Trost“ aufgesucht.
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„Sie war offenbar keine Zicke, nicht die Dorfhexe, die mit allen im Clinch liegt. Alle bösen Stereotypen von Frauen greifen nicht“, analysiert Lorenz. „Außerdem wird das Bild einer einsamen, keuschen Frau gezeichnet, die ein nonnenhaftes, züchtiges Leben führte. Die zeitspezifische Logik ist: Sie hat keine Affären, es kann also keinen eifersüchtigen Liebhaber geben.“ Wer also könnte ein Motiv gehabt haben, Cornelia A. zu töten?
Leiche wird erst am nächsten Morgen von einer Reinigungskraft gefunden
Zunächst die Fakten: Die Tat ist laut Polizei am Freitag etwa zwischen 17 und 20 Uhr begangen worden – nach Beendigung der Sprechstunde. Nach der Tat hat der Täter die Praxisschlüssel genommen und abgeschlossen. Der Mord wird erst Stunden später, am Samstagmorgen, entdeckt, als eine Reinigungskraft die Praxis säubern will. Unklar ist, mit welcher Tatwaffe genau Cornelia A. getötet worden ist. Es müsse sich um ein größeres Messer, zum Beispiel ein Fahrtenmesser handeln, nimmt die Polizei an.
Die Ermittlungen konzentrieren sich nun zunächst auf alle, die an diesem Tag die Sprechstunde besucht haben. Denn die Beamten sind davon überzeugt, dass es sich bei dem Täter mit großer Wahrscheinlichkeit um einen Patienten gehandelt haben muss – schließlich hatte die Ärztin ja kaum private Kontakte. Schnell steht außerdem die These im Raum, dass es sich bei dem Mörder um einen „Geisteskranken oder Süchtigen“ gehandelt haben muss. Einen Raubmord hält die Polizei für sehr unwahrscheinlich, weil die Tote noch eine wertvolle Brillantuhr am Handgelenk trägt.
Täter war wohl stark erregt – ein „Geistesgestörter“ oder eine Frau?
Neben zwei weiteren Tatverdächtigen, die in der Vergangenheit durch Voyeurismus und Brutalität auffällig geworden sind, nimmt die Kriminalpolizei nun verstärkt die Gruppe der „Geisteskranken“ ins Visier – denn die unfassbare Brutalität, mit der der Täter das Gesicht des Opfers bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt hat, weise auf einen solchen hin, so die Annahme der Beamten. Rund 90 als „geisteskrank“ Erfasste sollen zu diesem Zeitpunkt in Alt-Gelsenkirchen auf freiem Fuß sein.
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Und dann rückt noch eine weitere Annahme ins Zentrum der Ermittlungen. „Die Vielzahl der nicht ausnahmslos wuchtig geführten Messerstiche (19 trafen den Hinterkopf, als das Opfer sich abgewandt haben muss) lassen auf eine starke Erregung des Täters schließen“, heißt es am 12. Januar 1962 in der WAZ. „Sie sind – kriminalistische Erfahrung – starker Hinweis auf eine weibliche Person, sofern ein geistesgestörter Mann oder ein Jugendlicher als Täter ausscheiden.“ Nun werden speziell weibliche Kräfte der Kriminalpolizei eingesetzt.
Expertin: Bild von der unbeherrschten, emotionalen Frau existiert schon sehr lange
Hier geht es zu weiteren Folgen von „Tatort Gelsenkirchen“
Alle Folgen der Serie „Tatort Gelsenkirchen“ finden Sie hier:
- Gelsenkirchen 1991: Elfjähriger entführt und brutal ermordet
- Brutaler Serienmörder: Jürgen Bartschs Gelsenkirchener Opfer
- Wenn Kinder Kinder töten: Der Fall Canan D. in Gelsenkirchen
- Wie ein Pilot auf Gelsenkirchens Straßen gelyncht wurde
- Cold Cases: Das sind Gelsenkirchens ungelöste Frauenmorde
- Wie morden Frauen? Der Fall Cornelia A. in Gelsenkirchen
Eine Frau oder ein geisteskranker Mann also: Laut Historikerin Lorenz stecken hinter dieser These uralte Theorien, die unseren Kulturkreis prägen. So habe schon das sogenannte „Säftemodell“ in der Antike beweisen wollen, dass Männer die Beherrschten und Vernünftigen, Frauen dagegen die Heißblütigen und Emotionalen seien. Das Wort Hysterie geht zum Beispiel auf den altgriechischen Begriff „Hystéra“ zurück, der nichts anderes als „Gebärmutter“ bedeutet. Ähnliche Stereotype seien auch in den großen monotheistischen Religionen vorhanden, so Lorenz.
„In der Aufklärung, Ende des 17. Jahrhunderts, brauchte man dann eine neue, naturwissenschaftliche Legitimation für die Unterdrückung der Frau“, erklärt die Historikerin. In eben jener Zeit also, in der die Gerichtsmedizin und die Gerichtspsychiatrie, wie wir sie heute kennen, in ihren Grundzügen entstanden seien. Damals hätten sich viele Medizintheorien entwickelt, die eben diese alten Normen übernommen und anatomisch begründet hätten: Männer sind rational, Frauen sind unbeherrscht und leicht zu emotionalisieren. Denn bei Frauen bestünde eine direkte Verbindung von der Gebärmutter zum Gehirn. „So rechtfertigte man etwa, dass Frauen nicht wählen oder studieren durften“, sagt Lorenz.
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Sei eine Frau zur Straftäterin geworden, dann habe man ihr Verhalten schnell pathologisiert: „Es hieß dann: Eine normale Frau macht so etwas ja nicht, da muss irgendetwas physiologisch schiefgelaufen sein.“ Geistesgestörte Männer dagegen, so zeigten Beobachtungen, seien schnell verweiblicht worden: „Wenn sich ein Mann nicht männlich verhielt, dann war er nicht normal – und fast schon an der Grenze zur Frau.“ Alles schon sehr lange her, könnte man meinen. Lorenz betont aber: „Das ist der Kulturraum, in dem wir uns bewegen. Diese Theorien spielten in den Sechzigerjahren noch eine Rolle. Und sie tun es auch noch heute.“
Tatverdächtige wird schließlich gefasst – ihr Motiv: Rauschgiftsucht
Am 26. Januar gibt es schließlich eine Festnahme: Tatverdächtig ist die 39-jährige Else R. Sie passt genau in das Täterprofil, dass die Ermittler erarbeitet haben. Sie ist eine Frau, war Patientin bei Cornelia A. und ist drogenabhängig – von Beginn an hat ja die These im Raum gestanden, dass es sich bei dem Täter um einen „Süchtigen“ gehandelt haben könnte. In einem fast bis Mitternacht dauernden Verhör gesteht R. den Mord. Das Motiv: ihre Rauschgiftsucht. Die Ärztin habe ihr ein Rezept verweigert, woraufhin sie mit einem bereits für diesen Fall mitgebrachten Beil auf sie eingeschlagen habe.
1963 beginnt vor dem Essener Landgericht der Schwurgerichtsprozess gegen R., die sich in der Zwischenzeit länger in psychiatrischer Behandlung befunden hat. Sie bestreitet die Tat mittlerweile und behauptet, ihre Geständnisse seien die Folge der Vernehmungsmethoden der Kriminalpolizei gewesen. Tatsächlich ist in der WAZ zu lesen, dass die drogenabhängige R. das Verbrechen lange bestritten hatte und erst gestand, nachdem sie aufgrund der heftigen Entzugserscheinungen einem Zusammenbruch nahe war.
Im Gerichtsprozess gibt es Diskussionen über Tathergang und Mordwaffe
Am zweiten Prozesstag erklärt R. der Gelsenkirchener Stadtchronik zufolge dem Schwurgericht: „Ich habe kein Beil mit in das Sprechzimmer von Frau Dr. Ahlers genommen, aber ich habe das Zimmer mit einem Beil verlassen. Ich habe den wahren Mörder gesehen, ich wäre beinahe selbst ums Leben gekommen!“ Mit einem Satz habe der Mörder über die Praxisliege springen wollen, sei aber zu Fall gekommen und mit dem Kinn auf die Kante der Liege aufgeschlagen. Da habe sie schnell ihre verstreuten Sachen in die Einkaufstasche gesteckt, auch das dem Mörder entglittene Beil, und sei aus dem Zimmer gestürzt.
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Verschiedene Zeugen werden gehört. Mehrere Gutachter und Zeugen belasten R., es gibt aber auch Unstimmigkeiten. Unter anderem kommt es zu einer Diskussion über die Mordwaffe: Der Gerichtsarzt sagt überraschend aus, diese sei kein Beil – wie R. ausgesagt hatte – sondern ein scharfes Messer gewesen, wie die Polizei am Anfang angenommen hatte. Am Ende beantragt der Staatsanwalt eine lebenslängliche Zuchthausstrafe.
Doch nach 13 Tagen endet der Prozess mit einem Freispruch. Die Begründung: in dubio pro reo. Landgerichtsdirektor Rossa erklärt in der Urteilsbegründung, die Indizienkette sei nicht lückenlos geschlossen, sodass Täterschaft, Mittäterschaft, Begünstigung oder Mitwisserschaft nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden könnten. Das Gericht sieht es zwar als erwiesen an, dass Else R. am Tatort gewesen sei und auch Beweismaterial von dort entsorgt habe. Dass sie die Täterin ist, sei aber keineswegs sicher.
Gericht: Auch ein Mann könnte die Tat begangen haben
An dem Mohairmantel, den R. am Tatort trug, befanden sich keine Blutspritzer. Dies wertet das Gericht als Indiz dafür, dass jemand anderes der Mörder sein muss. Eine Theorie der Kammer: Ein R. nahe stehender Mann könnte die Tat begangen haben, woraufhin sie ihn deckte. Diese Vermutung liege angesichts von R.s Persönlichkeitsstruktur nicht allzu fern, wird in den Prozessakten ausgeführt. Denn die Angeklagte habe viele Männerbekanntschaften gehabt. Else R. kommt frei.
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Das will der zuständige Oberstaatsanwalt nicht hinnehmen und kündigt an, Revision zu beantragen. Seiner Ansicht nach kann der Täter auf keinen Fall ein Mann sein. „Nur eine Frau kann 36 mal mit einem Beil auf den Kopf ihres Opfers schlagen, ohne eine tödliche Verletzung herbeizuführen“, heißt es in seiner Revisionsbegründung. Erst die letzten Stiche und Schnitte in der Halsgegend hatten zu Claudia A.s Tod geführt. Ein Mann, so die Ansicht des Oberstaatsanwaltes, hätte das Opfer sicherlich mit wenigen Hieben getötet. Doch der zuständige Generalbundesanwalt in Hamm bezeichnet die Revision als wenig aussichtsreich – und so nimmt der Staatsanwalt seinen Antrag zurück. Ein anderer Tatverdächtiger kann nie ermittelt werden.