Gelsenkirchen. Dass Kinder töten, passiert selten – aber es passiert. 1983 missbrauchten und ermordeten drei zehn-, elf- und zwölfjährige Jungen ein Mädchen.

Es ist ein Verbrechen, das fassungslos macht. Ein siebenjähriges Mädchen, mit einem Dauerlutscher in den Hinterhalt gelockt, gequält, missbraucht, erschlagen. Die Täter: selbst noch Kinder. Drei Jungen im Alter von zehn, elf und zwölf Jahren ermordeten am 25. Juli 1983 in Bismarck die kleine Canan D. Dabei schien zunächst alles auf einen anderen Täter hinzuweisen.

Dieser Text ist Teil der historischen WAZ-Serie „Tatort Gelsenkirchen“, in der wir bewegende Mordfälle der vergangenen 66 Jahre noch einmal aufarbeiten. Wie gingen die Ermittler damals vor? Welche Motive standen hinter den Taten? Wie erinnern sich Zeitzeugen an die Fälle, wie blicken Experten heute darauf? Als Recherchequelle diente unter anderem das große Archiv der WAZ Gelsenkirchen, das bis in die Vierzigerjahre zurückreicht.

Canan D. trägt ein rot-weiß gemustertes Kleid und weiße Sandalen, als sie die Wohnung ihrer Eltern an jenem Sommertag zum letzten Mal verlässt. Ihre Mutter hat ihr 20 Pfennig gegeben, damit sie sich an der nahe gelegenen Trinkhalle ein Wassereis kaufen kann. Wenige Stunden später findet ein ebenfalls erst siebenjähriger Junge ihre Leiche mit entblößtem Unterleib auf einem Grünweg am Greitenstieg in Bismarck. Die Tatwaffe: ein 19 Kilogramm schwerer Betonklotz.

Erst gerät ein 59-jähriger Frührentner unter Verdacht

Die Obduktion am Gerichtsmedizinischen Institut in Essen ergibt, was die Auffindesituation ihrer Leiche bereits befürchten lässt: Das Mädchen ist einem Sexualverbrechen zum Opfer gefallen. Für Hinweise zur Aufklärung des Mordes setzt die Staatsanwaltschaft Essen nun 3000 D-Mark aus. Mit Erfolg? „Mord möglicherweise aufgeklärt“, titelt die WAZ am 2. August. Die Mordkommission hat einen 59-jährigen Mann festgenommen. Werner S. leidet an schweren Kriegsverletzungen und ist schon seit 1957 Rentner. Der zuständige Staatsanwalt Wolfgang Reinicke bezeichnet ihn als „geistig äußerst schwierig“.

Der Grünweg am Greitenstieg in Gelsenkirchen-Bismarck. 1983 fand man hier die Leiche der siebenjährigen Canan D.
Der Grünweg am Greitenstieg in Gelsenkirchen-Bismarck. 1983 fand man hier die Leiche der siebenjährigen Canan D. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Bei der Befragung durch die Polizei verstrickt sich Werner S. in Widersprüche, nennt Einzelheiten, die nur der Täter kennen kann – und gesteht schließlich den Mord. Die Staatsanwaltschaft stellt einen Haftbefehl wegen Mordes und „Unzucht mit einem Kind“ aus. Ist der Fall also geklärt?

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Nicht abschließend. „Aufgrund seines Verhaltens und seiner Angaben steht er zur Zeit unter dringendem Tatverdacht“, sagt Staatsanwalt Reinicke. Es könne aber durchaus sein, dass der Rentner den Mord nur zur Verdeckung der sexuellen Straftat gestanden habe. Außerdem sind an S.’ Kleidungsstücken keinerlei Spuren zu finden, die auf einen „direkten Kontakt“ mit dem ermordeten Kind schließen ließen.

Verdächtiger hatte schon in der Vergangenheit „an Kindern manipuliert“

Wenige Tage später scheinen sich die Hinweise gegen S. zu verdichten: Drei Jungen, zehn, elf und zwölf Jahre alt, wollen gesehen haben, wie Werner S. mit der kleinen Canan in ein Gebüsch ging. Nach einiger Zeit habe der Rentner den Betonklotz aufgehoben und wieder fallengelassen. Das Mädchen hätten sie ab dann allerdings nicht mehr gesehen. Dafür sagen die drei Jungen gegenüber der Polizei aus, dass S. in der Vergangenheit regelmäßig in der Nähe eines Spielplatzes am Greitenstieg „herumgestrichen“ sei. Er habe dort oft auf den Bänken gesessen und die Kinder beobachtet.

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Außerdem, so teilt die Staatsanwaltschaft mit, ist S. bereits zehn Jahre zuvor strafrechtlich in Erscheinung getreten. Damals wurde er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, weil er „an Kindern manipuliert“ hatte, danach sei er aber nie wieder auffällig geworden. Während Polizei und Staatsanwaltschaft sich mittlerweile sicher sind, den Täter überführt zu haben, widerruft Werner S. sein Geständnis.

Das Blatt wendet sich: Drei Kinder aus Gelsenkirchen gestehen den Mord

Und dann der Paukenschlag: Die drei Kinder, die den Rentner gegenüber der Polizei belastet hatten, gestehen den Mord. „Die drei Jungen hatten, wie sie jetzt zugaben, das Mädchen mit einem Dauerlutscher angelockt“, wird der Tathergang am 12. August 1983 in der WAZ geschildert. „In einem Gebüsch nahmen sie an der Siebenjährigen schmerzhafte Misshandlungen vor. Das Mädchen habe geschrien, sei weggelaufen und habe den Jungen gedroht, ihren Eltern davon zu erzählen. Aus Angst vor Strafe hätten sie das Mädchen umgebracht.“

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Laut dem Gelsenkirchener Kripochef Kurt Bachmann und dem Essener Oberstaatsanwalt Gerd Lindenberg hat eine Diplom-Psychologin die drei Jungen untersucht – und ist zu dem Schluss gekommen, dass „ihre Aussagen der Wahrheit entsprechen“, wobei dem Geständnis des Zwölfjährigen „wegen seiner Stimmigkeit“ eine besondere Bedeutung zukomme. Er ist es laut Ermittlungsbehörden auch gewesen, der Canan mit dem Betonklotz erschlagen habe, nachdem einer der anderen Jungen sie gewürgt habe. Dass er körperlich in der Lage ist, den schweren Stein hochzuheben, wird in einem Test der Kripo nachgewiesen.

Psychologe: Kinder, die brutal töten und quälen, sind sehr selten

Kinder, die so brutal ein anderes Kind töten und sexuell quälen – wie ist das möglich? „Solche Fälle sind zum Glück sehr selten“, sagt der Essener Kinder- und Jugendlichentherapeut Christian Lüdke, der unter anderem mit jungen Straftätern arbeitet. Tötungsdelikte mit so jungen Tätern, die Mordkriterien erfüllten, erlebe er deutschlandweit vielleicht zweimal pro Jahr. „Verbreiteter sind Tötungsdelikte unter Jugendlichen – zum Beispiel der eskalierte Streit, der dann in einer Messerstecherei endet“, weiß der Psychotherapeut.

Im Fall Canan D. liegen die Dinge anders. Wären die drei Täter strafmündig gewesen und vor Gericht gestellt worden, dann wäre zumindest ein Mordmerkmal sicher erfüllt gewesen: nämlich das des Mordes zur Verdeckung einer anderen Straftat. Suche man hier nach den Gründen für das grausame Verbrechen, dann müsse man im familiären Umfeld der Kinder ansetzen, so Lüdkes Einschätzung: „Wenn ein Kind sich bedingungslos geliebt fühlt, dann wird es kaum eine solche Tat begehen.“

Erfahrung des Essener Therapeuten: Fehlende Liebe ist oft die Ursache

Jene Kinder, die sich ungeliebt, unerwünscht, nirgendwo zugehörig fühlten, entwickelten sich nicht selten zu „Problemkindern“. „Die Devise lautet dann häufig: ‘Wenn ich nicht geliebt werde, dann sollen sie mich eben hassen’“, weiß Lüdke. „Das sind dann die Kinder, die ihre Mitschüler drangsalieren und mit dem Kopf ins Klo stecken.“

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Dazu kommt: Wer kein stabiles familiäres Umfeld habe, der lasse sich schnell manipulieren. So könnte es auch im Fall der drei Jungen gewesen sein. Denn nach Angaben der Behörden steht fest, dass Werner S. mit den jungen Tätern seinerseits seit geraumer Zeit „sexuelle Spiele getrieben hat“. Zeitweise involviert gewesen, so Staatsanwalt Lindenberg, sei auch eine etwa 40 Jahre alte Freundin des Rentners, mit der er gemeinsam „Beziehungen“ zu den Kindern unterhalten habe. S. habe die drei Jungen schließlich auch darauf gebracht, „an der kleinen Canan zu spielen“.

Sind Kinder „schuldig“? – „Sie wussten genau, was sie taten“

Erwachsene sollten keineswegs den Fehler machen zu denken, dass Jungen in diesem Alter noch keine Sexualität hätten, betont Lüdke: „Um das zehnte Lebensjahr sind Kinder viel weiter entwickelt, als viele denken. Sie haben eine völlig ausgeprägte Sexualität und hocherotische Fantasien. Und dann ist da diese krankhafte Vaterfigur, die sie dazu animiert, diese Fantasien einfach in die Tat umzusetzen. Der sagt: ‘Mach doch mal, fass sie doch einfach mal an’.“

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Fatal ausgewirkt habe sich hier wohl außerdem die Gruppendynamik, vermutet Lüdke. Aus Angst vor Bestrafung hätten die Jungen dann den Mord als primitive Form der Problemlösung gewählt. Gut möglich, dass in ihren Elternhäusern Maximen wie „Fall bloß nicht auf“ oder „Sei nicht so laut“, geherrscht hätten, sodass sie es gewöhnt gewesen seien, die Reaktion der älteren Generation zu fürchten. Doch auch wenn Lüdke sagt: „Diese Kinder sind im Grunde tragische Figuren, die nach Liebe und Aufmerksamkeit schreien“, für schuldig im moralischen Sinne hält er sie trotzdem. „Sie wussten genau, was sie taten und dass das nicht in Ordnung war“, glaubt er.

Strafrechtlich konnten die unter 14-Jährigen Jungen nicht belangt werden. Sie wurden stattdessen der „Fürsorgeerziehung“, wie man die heutige Kinder- und Jugendhilfe damals nannte, unterstellt.