Essen. Balancieren, zählen, sprechen: Viele Kinder haben damit große Probleme. Eine Pädagogin und eine Logopädin erklären, woran es liegt und was hilft.

Balancieren, zählen, in ganzen Sätzen sprechen: Immer mehr Kinder in NRW haben bei der Schuleingangsuntersuchung sozial-emotionale, motorische und sprachliche Defizite. Rund 5700 Schülerinnen und Schülern wurde deshalb im vergangenen Jahr empfohlen, ein Jahr länger in der Kita zu bleiben. Das sind deutlich mehr als noch in den Jahren zuvor. Zum Vergleich: 2019 gab es nur rund 3200 Zurückstellungen. Woran liegt das? Und wie lässt sich gegensteuern? Eine Sozialpädagogin und eine Logopädin geben Überblick.

Was wird bei den Schulanmeldungen überprüft?

„Bei den Schulanmeldungen schauen wir, auf welchem Entwicklungsstand die Kinder in den verschiedenen Bereichen sind“, sagt Nicole Jagowski, Sozialpädagogin an einer Oberhausener Grundschule und Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in NRW.

Kann das Kind zählen und Mengen vergleichen? Geräusche identifizieren und Silben klatschen? Hüpfen und balancieren? Wie spricht das Kind? Und wie verhält es sich im Umgang mit der pädagogischen Fachkraft? „Wenn ein Kind in diesen Bereichen große Schwierigkeiten hat, nehmen wir nach Absprache mit den Eltern Kontakt zur Kindertageseinrichtung auf und suchen gemeinsam nach Lösungen“, sagt Nicole Jagowski.

Inwieweit haben die Probleme zugenommen?

„Immer mehr Kinder haben motorische Probleme, ihnen fällt es zum Beispiel schwer, das Gleichgewicht zu halten oder ruhig auf einem Stuhl zu sitzen. Einige können sich nicht aufrecht halten, stützen ihren Kopf auf die Hände oder liegen auf dem Tisch“, erzählt Jagowski.

Nicole Jagowski ist Sozialpädagogin an einer Oberhausener Grundschule und Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in NRW. 
Nicole Jagowski ist Sozialpädagogin an einer Oberhausener Grundschule und Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in NRW. 

Doch vor allem die sprachlichen Defizite hätten zugenommen. Kinder könnten oft weder Deutsch sprechen noch sich richtig artikulieren. Nicole Jagowski: „Viele können mit fünf Jahren noch nicht in vollständigen Sätzen sprechen, keine Laute bilden oder ihnen fehlen Begriffe.“ Zudem seien einige Kinder teils sehr zurückhaltend, trauten sich nicht, sich zu äußern. Andere schafften es nicht, ihr Gegenüber ausreden zu lassen. Oft fehle das Bewusstsein für Regeln. „Bei einigen können wir hier von einer Sprachentwicklungsstörung sprechen, die logopädisch behandelt werden muss.“

Woran erkennt man eine Sprachentwicklungsstörung?

In der Regel haben sechs bis acht Prozent der Kinder eines Jahrgangs eine Sprachentwicklungsstörung. Dieser Wert sei seit Jahren recht stabil, sagt Annika Möller-Klüber. Sie arbeitet als Logopädin und ist Mitglied des Deutschen Bundesverbandes für Logopädie.  Anzeichen einer solchen Störung erkenne man, wenn Kinder etwa Schwierigkeiten haben, Aufforderungen zu verstehen oder so undeutlich sprechen, dass man sie nicht verstehen kann. Ein reines Lispeln gehöre jedoch nicht dazu.

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„Eine Faustregel lautet: Mit 24 Monaten sollte das Kind mindestens 50 Wörter sprechen“, sagt Möller-Klüber. Allerdings werde mit einer Sprachtherapie zu häufig bis zum Vorschulalter gewartet, kritisiert sie. „Es wäre sinnvoll, wenn die Kinder früher zu uns kommen würden, damit wir vor den Schuleingangsuntersuchungen handeln können.“

Woher kommen die Schwierigkeiten bei den Kindern?

Hier kommen laut Sozialpädagogin Nicole Jagowski mehrere Faktoren zusammen: „Mit den Vorschulkindern haben wir einen Jahrgang, der sehr unter Corona gelitten hat. Hinzu kommt der vermehrte Medienkonsum. Viele Kinder können die oftmals viel zu bunten und schnellen Bilder nicht richtig verarbeiten. Zudem nimmt die Anzahl der Familien zu, in denen die Herkunftssprache nicht deutsch ist, etwa durch Zuzug oder geflüchtete Familien. Hier bestehen anfangs große Sprachschwierigkeiten.“ Insgesamt, so beobachtet es Logopädin Annika Möller-Klüber, ziehen sich die Probleme durch alle gesellschaftlichen Schichten.

Inwieweit tragen die Eltern Verantwortung?

Vorlesen, nachfragen, im Gespräch bleiben: „Es ist wichtig, dass sich Eltern trotz des stressigen Alltags Zeit für ihr Kind nehmen. Und zwar nicht nur für dessen sprachliche, sondern auch die sozial-emotionale Entwicklung“, sagt Möller-Klüber. Doch oft neigten auch Eltern dazu, in Gesprächen immer wieder aufs Handy zu schauen. „Da müssen wir als Gesellschaft sensibler werden.“  Wichtig sei es auch, die Termine zu den Früherkennungs- und Vorsorgeuntersuchungen regelmäßig wahrzunehmen, um Auffälligkeiten in der Entwicklung frühzeitig zu erkennen und das Kind gezielt zu unterstützten und zu fördern. 

Was muss sich ändern?

„Wir brauchen dringend mehr und besseres Personal in Kita und Schule“, sagt Pädagogin Nicole Jagowski. In den Kitas dürfe etwa der Betreuungsschlüssel nicht immer weiter heruntergesetzt werden. Und gerade in den ersten und zweiten Klassen brauche es mehr Sozialpädagoginnen und -pädagogen, die die Kinder eng begleiten – am besten eine Fachkraft pro Klasse.

Annika Möller-Klüber wünscht sich eine engere Zusammenarbeit zwischen dem Gesundheits- und dem Bildungssystem. „In einigen Ländern sind wir Logopädinnen und Logopäden direkt vor Ort in den Schulen und Kitas. Diese Konzepte braucht es hier auch, um die Kinder besser begleiten zu können“, sagt sie. Zudem sollten Familien einen einfacheren Zugang zu Logopädinnen und Logopäden bekommen und nicht erst die Schleife über den Kinderarzt oder die Kinderärztin gehen müssen.

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