Bochum. Ali Ali war in Syrien Mathelehrer und Schulleiter. In NRW darf er nicht unterrichten. Wieso eine Grundschule trotzdem auf ihn angewiesen ist.

„Herr Ali, kannst Du mir helfen?“, ruft der Junge durchs Klassenzimmer. Ali Ali hebt seine buschigen Augenbrauen, als er vor ihm steht. „Welche Seite nochmal?“, fragt der Junge. Der 53-Jährige beugt sich vor, schlägt Seite 44 auf. „Danke, Herr Ali“, sagt der Schüler. „Pass jetzt auf, was der Lehrer erklärt“, antwortet Ali.

Ali Ali war in Syrien 18 Jahre Mathe-, Chemie- und Physiklehrer und acht Jahre Schulleiter. „Jetzt bin ich nur Helfer. Ich sage Helfer-Lehrer“, erzählt er. In NRW fehlen fast 8000 Lehrkräfte. Ali fehlen die formalen Voraussetzungen, um hierzulande selbst zu unterrichten. Seit fünf Jahren hilft er an der Bochumer Gertrudisschule immer da aus, wo er gerade gebraucht wird.

Bochumer Gertrudisschule steht vor vielen Herausforderungen

In der Grundschule herrscht Platz- und Personalmangel. Ihr Einzugsgebiet gilt als „sozialer Brennpunkt“. Wer hier wohnt, ist oft von Armut betroffen. Etliche Kinder waren nie in der Kita. Viele Familien sind zugewandert. All das wirkt sich aus. Viele Schulanfängerinnen und Schulanfänger sind weit davon entfernt, ihren Namen auf Deutsch schreiben zu können. Viel zu tun für Ali, der Deutsch, Arabisch, Kurdisch und ein bisschen Türkisch spricht.

Im Unterricht schlägt er für die Kinder die richtige Seite im Buch auf, rückt ihre Stühle zurecht, hebt ihre Stifte auf. Er tippt ihnen auf die Schulter, wenn sie nicht zuhören. Und erklärt ihnen leise die Aufgabe, wenn sie nicht weiterkommen.

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Er übernimmt auch die Pausenaufsicht, betreut nachmittags die Lernzeit. Jeden Morgen begrüßt er die Eltern am Schultor und fragt, ob sie Hilfe brauchen, um eine Mail der Schule oder einen Brief vom Amt zu verstehen. An Elternsprechtagen übersetzt er. Am liebsten hilft Ali aber den Schülerinnen und Schülern bei Mathematik.

„Ich war wie der Vater der Schule“

Zahlen begeisterten ihn schon als Kind. Er wuchs mit sechs Schwestern und drei Brüdern im Norden Syriens auf. Sein Vater war Schäfer, seine Mutter Analphabetin. „Wir hatten nicht viel“, erinnert er sich. „Aber unsere Bildung war meinen Eltern sehr wichtig.“

Nach der Schule studierte Ali Mathematik und arbeitete einige Monate als Dozent an der Universität in Damaskus. Er fand einen Job an einer Schule, arbeitete sich vom Lehrer zum Schulleiter hoch. „Ich war für alles zuständig und für alle gerne da. Ich war wie der Vater der Schule.“ Dann brach der Krieg aus.

Tanja Knopp leitet die Gertrudisschule in Bochum.

„Ohne Ali wären wir verloren.“

Schulleiterin Tanja Knopp

2014 floh Ali nach Deutschland. 2015 kam er von Bayern nach Bochum, holte seine Frau und die sechs Kinder zu sich. „Ich war wieder glücklich. Aber etwas fehlte: Ich musste zurück an die Schule“, sagt er. Er machte eine Fortbildung zum Schulbegleiter, um Kinder mit Behinderung im Unterricht zu unterstützen. Dabei absolvierte er auch ein Praktikum an der Gertrudisschule.

„Ali hat uns alle begeistert. Für uns stand fest: Den müssen wir behalten“, sagt Schulleiterin Tanja Knopp. Sie setzte sich dafür ein, dass Ali an ihrer Schule bleiben konnte. Finanziert wird seine Stelle heute von der Arbeiterwohlfahrt (AWO). „Ohne Ali wären wir verloren“, sagt Knopp.

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Ali sagt, dass er gern wieder als Lehrer arbeiten würde. Aber da ihm Zeugnisse und Qualifikationen fehlen, müsste er erst zurück an die Uni. „Ich bin über 50 und habe sechs Kinder. Da kann ich nicht studieren“, sagt er und seufzt. Dann lächelt er schnell wieder. „Aber ich bin zufrieden. Ich helfe gern anderen. Und Hauptsache, ich kann in Deutschland arbeiten. Zurück nach Syrien, das wäre zu gefährlich.“

Ali unterrichtet auch die Eltern der Bochumer Gertrudisschule 

Einmal in der Woche kehrt er zurück in sein altes Leben – und steht wieder als Lehrer vor einer Tafel. „Wir müssen uns beeilen“, sagt er. Ein paar Hundert Meter vom Schulgelände entfernt warten an diesem Vormittag schon 30 Eltern der Gertrudisschule im AWO-Café auf ihn. Ali begrüßt sie auf Deutsch, Kurdisch, Arabisch und Türkisch. Dann hält er eine Karte in die Luft. „Was seht ihr hier?“, fragt er.

„Ein Mann der eine... Wie sagt man?“, antwortet eine Mutter und wechselt dann ins Kurdische. Ali übersetzt für die Gruppe: „Ein Mann mit einer gelben Karte in der Hand. Die Karte steht für Grenzen und Regeln. Welche Regeln sind wichtig für Kinder?“ Drei Mütter antworten gleichzeitig. „Nicht alle zusammen. Bitte immer erst melden“, sagt Ali.

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Ob gute Erziehung, gesunde Ernährung oder den passenden Stromtarif: Jeden Mittwoch spricht er mit den Eltern über ein anderes Thema. Ein Vater kommt alle zwei Wochen, wenn er Spätschicht hat. Eine Mutter nutzt die Pause ihres Deutschkurses, um von Ali zu lernen. Eine andere besucht das Eltern-Café, obwohl ihre Kinder schon längst auf eine weiterführende Schule gehen. Sie alle haben Alis Handynummer.

Er ist für sie da, egal, um was es geht. „Ich will ihnen aber vor allem zeigen, wie die Schule hier funktioniert“, sagt Ali. „Und was sie tun können, damit ihre Kinder gute Schüler werden.“

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