Gelsenkirchen. Jeder Sechste hier hat bei der Europawahl die AfD gewählt – dabei ist sie im Stadtteil kaum präsent. Was ist passiert in Scholven?

Wenn man verstehen möchte, wie die AfD so stark geworden ist, sollte man nicht nach Ostdeutschland schauen. Die Vorstellung, dass es spezifisch ostdeutsche Faktoren gebe, verstellt den Blick. Man kann besser im Westen auf Spurensuche gehen, im Norden des Ruhrgebiets. In Gelsenkirchen-Scholven zum Beispiel holte die AfD bei der Europawahl an die 30 Prozent. Aber warum nur?

1. Es sind nicht die ausländischen Nachbarn

Eines eint die Hochburgen der AfD: Es sind oft nicht die Stadtteile mit der höchsten Ausländerquote: In Duisburg-Neumühl sind es immerhin 21,5 Prozent, aber das liegt etwas unter dem Stadtschnitt, und in Marxloh liegt der Anteil um das Dreifache höher. In Gelsenkirchen ist fast jeder vierte Bürger ausländischer Nationalität, in Erle neben der Gelsenkirchener Veltins-Arena sind es nur knapp 15 Prozent, in Scholven etwa 18 Prozent.

Aber in allen drei Stadtteilen hat – wenn man die Nichtwähler berücksichtigt – jeder sechste Bürger seine Stimme Rechtsaußen gegeben. Und je kleinräumiger man schaut, desto dramatischer wird es. Im zentralsten Wahllokal von Scholven, nahe der Hauptachse Feldhauser Straße, hat die AfD sogar über 45 Prozent geholt. Die SPD als zweitstärkste Kraft kam nicht auf die Hälfte.

„Können wir mit Ihnen über die AfD sprechen?“, fragen wir zehn Passanten – aber keiner möchte etwas dazu sagen. Wenn hier jemand die AfD wählt, lässt er es nicht raushängen, erklären uns dann Jennifer Rosik (40) und Gabriele Golombek (67) im „Kiosk an der Ecke“. Bei zwei, drei Kunden wissen sie es, „ansonsten liest man zwischen den Zeilen.“ Wenn zum Beispiel jemand raunt: „Die müssen nur ihre Pässe wegwerfen und bekommen alles.“

Wenn jemand in Gelsenkirchen-Scholven die AfD wählt, lässt er es nicht raushängen. „Man liest zwischen den Zeilen“, sagen Jennifer Rosik (40) und Gabriele Golombek (67) vom „Kiosk an der Ecke“.  
Wenn jemand in Gelsenkirchen-Scholven die AfD wählt, lässt er es nicht raushängen. „Man liest zwischen den Zeilen“, sagen Jennifer Rosik (40) und Gabriele Golombek (67) vom „Kiosk an der Ecke“.   © WAZ | Thomas Mader

„Ich glaube, ein Streitthema sind die Bulgaren und Rumänen, die hier leben“, sagt Rosik. „Aber ich finde, die sind immer richtig nett. Manchmal wird es etwas lauter, wenn sie grillen, aber sie harken danach die Wiese. Sie wohnen fast alle in dem Häuserblock nebenan.“

Dort steht ein alter Kühlschrank neben dem Altkleidercontainer. Das Hausmanagement entsorgt gerade einen Pappkarton, den eine Familie vor ihrer Tür abgelegt hatte. Auf der Wiese hier und dort: eine ausgequetschte Capri-Sonne, eine Buddel Captain Morgan, ein kaputtes Katzenauge. In den Büschen vorm Rewe-Supermarkt liegt mehr Dreck. Die Statistik der Stadt weist rund 160 Rumänen und Bulgaren im Stadtteil aus.

Aber mit Zahlen lässt sich der relative Erfolg der AfD nicht ableiten. Es geht offenbar darum, wie Menschen die Verhältnisse empfinden.

2. Überalterung und Geldmangel

Gleich hinter der Feldhauser Straße brummt die Raffinerie, die BP nun verkaufen will. Der Doppelzaun mit Stacheldraht, der sie umgibt, wirkt wie eine Landesgrenze. Die Häuser an diesem Rand wirken gemütlich, aber: an den Fassaden Ruß, auf den Dächern Moos, ansonsten nix los. Ein älterer Herr beobachtet hinter seinen Gardinen über Gartenzwerge hinweg den Reporter.

Sichtbar fehlt Geld für nötige Renovierungen. Ebenso sichtbar ist der Stadtteil überaltert. In Gelsenkirchen sind etwas über 40 Prozent der Menschen über 50 Jahre alt. In Scholven sind es über 60 Prozent.

Barbara Kochmann, Vorsitzende von Hansa Scholven

„Stahlarbeiter, Bergleute, die Raffineriemitarbeiter. Die mussten sich um ihre Zukunft keine Sorgen machen.“

Barbara Kochmann
SV Hansa Scholven

„Früher gab es in Scholven eine große Mittelschicht“, sagt Barbara Kochmann, die Vorsitzende des Sportvereins SV Hansa Scholven. „Stahlarbeiter, Bergleute, die Raffineriemitarbeiter. Die mussten sich um ihre Zukunft keine Sorgen machen.“ Eine klassische SPD-Hochburg, aber die SPD ist heute nur noch ein kleiner Haufen. Keiner kümmert sich um die vielen Frührentner und Arbeitslosen – die AfD allerdings auch nicht. Kein Büro, kein Wahlstand, nur Plakate.

Viele Kinder ziehen weg nach der Schulzeit. Aber schon vorher sind auch sie von der Arbeitsverdichtung betroffen, besuchen den Offenen Ganztag. „Es gibt nicht so viele, die danach noch voller Energie in den Sportverein gehen“, sagt Kochmann. Tippen statt Treffen, kleinere Familien ... Kochmann glaubt, all dies führe zu einer „gewissen Vereinzelung“.

Und dann: Wo kann man sich überhaupt noch treffen?

3. Verfall und Rückschritt

„Scholven ist wie eine Insel am Rande der Stadt“, sagt Bezirksbürgermeister Dominic Schneider (SPD). „Dahinten hört die Zivilisation auf“, scherzt auch Jennifer Rosik im Kiosk und zeigt in Richtung des Kraftwerks, das mit der Raffinerie einen Riegel gegen Norden bildet. Dahinter geht Scholven ins Münsterland über. Aber auch der Süden ist gefühlt weit weg: Mit Bus und Bahn braucht man bis zum Gelsenkirchener Hauptbahnhof eine Dreiviertelstunde mit Umsteigen.

Alle Gesprächspartner beschreiben den Verfall, die erlebbaren Rückschritte: Die Schlaglöcher, die Aufgaben im Einzelhandel, der Wochenmarkt war einmal. Das einzige Café, wo man nachmittags gemütlich ein Stück Kuchen essen kann, ist die Bäckerei am Baumarkt — und die ist schon in Gladbeck.

Gemeinden fusionieren und in der geschlossenen St. Josef Kirche haben sie zuerst die Glocke gestohlen. Graffitis haben sie gesprüht und das Pfarrhaus angezündet, zweimal. Dann wohnten Obdachlose im ehemaligen Mittelpunkt von Scholven (unweit des 45%-Wahllokals). Eine kleine Drogenszene hat sich etabliert. Das Unsicherheitsgefühl wurde noch verstärkt, glaubt Schneider, als die Polizeiwache mit Hassel zusammengelegt wurde.

Dominic Schneider, Bezirksbürgermeister im Gelsenkirchener Stadtbezirk Nord

„Scholven ist wie eine Insel am Rande der Stadt.“

Dominic Schneider
Bezirksbürgermeister in Gelsenkirchen-Nord

4. Das Gefühl des Abgehängtseins

In der Analyse ist die AfD nicht weit entfernt: „In Scholven ist Arbeitslosigkeit ein großes Problem und viele fühlen sich abgehängt“, sagt Jan Preuß, der AfD-Fraktionschef im Stadtrat. „Die Menschen sehen für sich, für die Stadt und gerade auch für den Stadtteil keine Zukunft mehr.“ Vielleicht überraschend lobt der AfD-Mann: Die Infrastruktur, die von der Stadtverwaltung zu leisten sei, stimme „im Großen und Ganzen schon. Ich glaube auch nicht, dass die Abwesenheit eines Jugendzentrums oder eines Rentnercafés vor Ort dazu führt, dass die Leute AfD wählen.“

„Das Gefühl der Überfremdung ist ein generelles Gefühl in Gelsenkirchen“, sagt AfD-Mann Preuß. Das ist eine Vereinnahmung. In den einzelnen Kommunalwahlbezirken schwankt die AfD zwischen zwölf und 30 Prozent, das spricht für große Unterschiede in der Wahrnehmung. Dass die AfD bei der Bundestagswahl am 23. Februar in Gelsenkirchen ihr erstes Direktmandat im Westen holen könnte, ist auch darum eher unwahrscheinlich. Der Wahlkreis umfasst die gesamte Stadt.

Jan Preuß AfD

„Die Menschen sehen für sich, für die Stadt und gerade auch für den Stadtteil keine Zukunft mehr“

Jan Preuß
AfD-Fraktionsvorsitzender in Gelsenkirchen

Preuß wirft den anderen Parteien „Selbstgefälligkeit“ vor, weil sie angeblich Bürgerprobleme ignorieren und alle Vorschläge der AfD im Stadtrat ablehnen: von kostenlosen Lehrerparkplätzen, um den Standort attraktiver zu machen, bis zu einem Zuschuss für die „Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit“. Der Zentralrat der Juden spricht sich allerdings gegen die AfD aus.

Die Hoffnung

„In Zeiten großer Umbrüche gehen Dinge kaputt“, sagt Barbara Kochmann. „Dann will man sie reparieren. Wenn das nicht funktioniert, baut sich Frust auf. Und irgendwann geht man mit der Flex dran oder schmeißt das Teil an die Wand.“

2020 wurde Hansa Scholven von Plänen überrascht, welche die Städte Gelsenkirchen und Gladbeck im Kämmerlein ausgekungelt hatten: Sie sollten ihre Spielstätte mit der SV Zweckel teilen. Das konnten die Scholvener mit viel Aufwand abwenden. Aber es gab einen großen Kollateralschaden: das Vertrauen in die Stadtverwaltung litt. Und aktuell war auch noch das Flutlicht über Wochen defekt.

Aber nun könnte die geplante Umwandlung zum Multizweckplatz die Sportanlage zum sozialen Mittelpunkt machen. „Die Menschen sollen sich hier treffen“, hofft Barbara Kochmann. Man müsse die Menschen aus der Vereinzelung locken: „Wer Freunde und Bekannte hat, der hat auch weniger Angst. Und wer sich wirkmächtig fühlt, glaubt vielleicht auch nicht mehr, die AfD wählen zu müssen.“

Die Bundestagswahl in NRW: Hier gibt es weitere Informationen