Gelsenkirchen. Bei der Europawahl landete die AfD in Gelsenkirchen hinter der CDU und vor der SPD. Besorgt und gespannt blicken viele nun auf das Superwahljahr.

Es wird ein Bundestagswahlkampf, wie es ihn so vielleicht noch nie gegeben hat. Zwischen dem Bruch der Ampel-Koalition am 6. November und dem Wahltag am 23. Februar liegen 109 Tage und damit sogar noch zehn Tage weniger als bei der letzten vergleichbaren Situation 2005. Den Parteien und ihren Kandidaten bleibt also nicht viel Zeit, um für sich zu werben. Dabei richtet sich in den alten Bundesländern der Blick auch besonders nach Gelsenkirchen, denn die Stadt könnte ihr viel zitiertes „blaues Wunder“ erleben.

Schließlich fuhr die AfD das beste Ergebnis in Westdeutschland 2024 in Gelsenkirchen ein, wo die Verhältnisse bei der zurückliegenden Europawahl auf den Kopf gestellt wurden: In der Stadt, die lange nur SPD-Wahlsiege kannte, wurde die CDU stärkste Kraft. Aber auch die AfD zog hauchdünn an den Sozialdemokraten vorbei und holte mit 21,7 Prozent ihr landesweit stärkstes Ergebnis. Besorgt und gespannt blicken daher viele Gelsenkirchener auf das Superwahljahr 2025, wenn erst der Bundestag neu gewählt wird und im September eine neue Oberbürgermeisterin oder ein neuer Oberbürgermeister.

Viele Gelsenkirchener beklagen einen Verfall ihres Kiezes

Obgleich es keine Studien und Umfragen auf lokaler Ebene gibt, die wissenschaftlich fundierte Antworten darauf geben könnten, warum die AfD in Gelsenkirchen vergleichsweise so stark ist, scheinen einige Erklärungen offenkundig. Insbesondere die große Armutszuwanderung aus den EU-Staaten Rumänien und Bulgarien in die Emscherstadt führt seit Jahren zu großen Integrationsherausforderungen auf allen Ebenen und zu großer Unzufriedenheit in den Stadtvierteln, wo viele Alteingesessene einen Verfall ihres Kiezes beklagen.

Gelsenkirchen ist eine von wenigen Städten in der Bundesrepublik, die in besonderem Maße mit den Folgen der EU-Südosterweiterung zu kämpfen hat. Mehr als 10.000 Armutszuwanderer aus Bulgarien und Rumänien sind in der Stadt gemeldet. Die Fluktuation ist sehr hoch, was auch ein Grund dafür ist, dass Integrationsbemühungen vielfach im Sande verlaufen. Die Lebensweise dieser Community führt in den Quartieren seit Jahren für Konflikte mit alteingesessenen Gelsenkirchenern – unabhängig davon, ob diese selbst einen Migrationshintergrund haben oder nicht. Im Wesentlichen geht es bei den Klagen immer um Vermüllung, Lärm, unangepasstes, rücksichtsloses Verhalten. Schlussendlich führt es dazu, dass sich viele Menschen in ihrer Nachbarschaft, ihrer Heimat schlicht nicht mehr wohlfühlen.

Dass die Zuwanderer aus Südosteuropa dabei nicht selten auch selbst im Strudel mafiöser Strukturen festhängen, für viel Handgeld von Vermittlern in Schrotthäusern untergebracht werden und oft auch in unzumutbaren, prekären Arbeitsverhältnissen ausgebeutet werden, ist auch ein Teil der Wahrheit. Möglich ist das nicht zuletzt auch deshalb, weil weite Teile der Community aufgrund ihrer Erfahrungen in ihren Herkunftsländern staatlichen beziehungsweise öffentlichen Angeboten misstrauen, lieber unter sich bleiben und aufgrund der geschilderten Umstände offensichtlich auch kein gesteigertes Interesse daran haben, sich den Gepflogenheiten der Mehrheitsgesellschaft anzupassen.

Das Gefühl entsteht: Es ist zu viel - die Integrationsanforderungen sind zu hoch

Während die Migration aus Südosteuropa mit all ihren Folgen schon für eine zunehmende Ablehnung vieler Gelsenkirchener gegenüber Neu-Zugewanderten sorgt, kamen und kommen die Tausenden arabischstämmigen und ukrainischen Geflüchteten seit 2015 dazu, die ihrerseits vor großen Integrationsherausforderungen stehen. Und das in einer Stadt, die ohnehin historisch schon stark von Zuwanderung geprägt ist.

Nun aber führt die Gemengelage in der Stadt dazu, dass an mancher Schule ein Schulstart fast ohne Deutschkenntnisse eher die Regel denn die Ausnahme ist. Gleiches gilt auch für Kindertagesstätten. In der Folge stehen Erzieherinnen, Lehrer, Eltern und Kinder oft vor schier unlösbaren Konflikten, die eben auch dazu beitragen, dass das Gefühl entsteht, es sei zu viel - die Integrationsanforderungen sind zu hoch.

Dass das so ist, ist indes kein Fakt, den allein die AfD in Gelsenkirchen ausspricht. Vielmehr ist es so, dass auch die scheidende Oberbürgermeisterin Karin Welge (SPD) immer wieder auf Landes- und Bundesebene darauf gepocht hat, der Stadt zu helfen, um den „sozialen Frieden zu sichern“. Zuletzt hatte außerdem der aus Gelsenkirchen stammende Ex-Bundesjustizminister, Marco Buschmann (FDP), auch ein Gesetz gegen die Schrotthausmafia auf den Weg gebracht, das insbesondere auch die Probleme in Gelsenkirchen lindern soll.

Aber, so sagte Welge einst im WAZ-Interview: „In der Euphorie eines Europas, in dem die ganzen Ostkonflikte nahezu aufgehoben waren, hatte man das Vertrauen, dass alles schon irgendwie klappt. Würde ich es hart formulieren, könnte ich sagen: Wir sind mit wenig anderen Städten dabei die Kollateralschäden gewesen“. Und auch das sagte Welge, dass sie sich teils als „Antiziganist“ habe beschimpfen lassen müssen, „wenn ich auf manche sozialpolitischen Herausforderungen aufmerksam gemacht habe.“

Auch der Fraktionschef der SPD im Gelsenkirchener Stadtrat, Axel Barton, wählte jüngst in einem Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz sehr deutliche Worte, als er schrieb: „Wir brauchen dringend Hilfe. Der soziale Frieden in Gelsenkirchen ist massiv gefährdet“. Der SPD-Politiker zählt auf, dass derzeit allein 16.840 Schutzsuchende in Gelsenkirchen leben, dazu kommen 12.227 Zugezogene aus Bulgarien und Rumänien, mit allen bekannten Herausforderungen für die Nachbarschaften.

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Doch trotz aller Bemühungen der alten Parteien, die in Gelsenkirchen zum Beispiel auch den Kommunalen Ordnungsdienst von 50 auf 100 Kräfte vergrößert haben, glauben viele Menschen in der Stadt nicht daran, dass die Volksparteien die Probleme werden lösen können. Und so wächst in Gelsenkirchen zunehmend die Sorge vor einer immer stärker werdenden AfD.

Denn eines hört man in Gelsenkirchen nahezu überall - die Klagen um die rasanten sozialen und kulturellen Veränderungen. Oder anders ausgedrückt: Viele Menschen fühlen sich zunehmend fremd in ihrer eigenen Heimat und wollen dieser Entwicklung Einhalt gebieten. Die AfD sehen dabei nicht wenige als die Partei, der sie das am ehesten zutrauen, die Probleme zu lösen - unabhängig davon, wie realistisch oder menschenverachtend die Versprechen der Partei mitunter letztendlich sind.