Berlin. Nur Wochen bleiben bis zur Bundestagswahl. Splitterbündnisse setzt das unter Druck. Und wirft die Frage auf: Ist das Wahlrecht gerecht?
Politik ist ein Markt, Wahlen sind ein Wettbewerb. Parteien suchen Zugang zu diesem Markt, konkurrieren mit unterschiedlichen Forderungen, streiten um Marktanteile. Und so sind Fragen des Wahlrechts immer auch Machtfragen – über Zugang zu diesem Markt, über Marktmacht.
Bei Ole Teschke und seinen Parteikollegen herrscht gerade Alarmstimmung. Denn sie fürchten, dass ihnen der faire Zugang zum politischen Wettbewerb gerade massiv versperrt wird durch die vorgezogenen Neuwahlen für den Bundestag. Die Menschen in Deutschland wählen nun schon Ende Februar, und nicht erst im September. „Uns bleiben noch Wochen, um alle rechtlichen Voraussetzungen zu erfüllen, wo wir eigentlich sonst Monate Zeit haben.“
Teschke ist Spitzenkandidat der Partei der Humanisten in Niedersachsen und zugleich der Vize-Bundesvorsitzende der PdH, eine Kleinstpartei, die sich als „Humanisten unseren Werten verpflichtet“ sehen, „rational, liberal, fortschrittlich“. Sie setzen sich für ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ ein und wollen ein „Zertifikatshandelssystem“ für die Verteilung von Asylsuchenden in Europa. Steuerhinterzieher sieht die Partei als „eine der größten Gefahren für soziale Gerechtigkeit“.
Teschke hat nun einen Offenen Brief initiiert, der mehr Wellen schlägt als das Programm seiner Partei. Unterzeichnet ist er nicht nur von den „Humanisten“, sondern auch von der ÖDP, der Piratenpartei, von der Tierschutzpartei, der Partei für Verjüngungsforschung und anderen. Es sind die Nischenprodukte der Demokratie, die sich unter dem Schreiben sammeln. Die Kleinen klagen die Großen an, den Bundeskanzler, die Innenministerin, den Bundestag.
Die vorzeitigen Neuwahlen würden „uns Kleinparteien erheblich benachteiligen“, schreiben sie. Vor allem eine Pflicht im Wahlrecht macht ihnen zu schaffen: Um bundesweit zugelassen zu werden, müssen die Parteien gut 27.000 Unterschriften für die Landeslisten der Parteien sammeln. Die Kandidatinnen und Kandidaten brauchen Tausende Befürworter, bevor sie antreten dürfen. Das soll sicherstellen, dass „nur ernsthafte Vorschläge zur Wahl stehen“, wie der Gesetzgeber schreibt.
Teschke von den Humanisten sagt, dass diese Masse an Unterschriften vor allem kleine Parteien benachteilige. Im Offenen Brief heißt es, diese Hürde in so kurzer Zeit sei „unzumutbar und widerspricht den Grundsätzen einer fairen Demokratie“. Zumal im Winter-Wahlkampf, der mitten in die Weihnachtszeit fällt, in der Parteihelfer noch schwerer zu mobilisieren sind. Denn irgendwer muss ja die Unterschriften einsammeln – digital ist das in Deutschland nicht zugelassen, anders als etwa in Dänemark.
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Große Parteien können diese Wahlbürokratie besser auffangen
Ohnehin, so erzählt Teschke, müssten die Behörden den Parteien erst einmal die Formulare für die Unterschriften aushändigen. Teilweise dauere es Wochen. Und dann müssen die Einwohnermeldeämter die Listen mit den Unterstützern auch noch prüfen, Name für Name. Wieder würden Wochen ins Land gehen, sagt Teschke.
Große Parteien können diese Wahlbürokratie besser auffangen, haben professionelle Apparate aufgebaut und finanziert, die Helfer organisieren, die wiederum mit der Verwaltung erfahren sind. Das Netzwerk der kleinen Parteien ist dünner, die Finanzlage ohnehin. Und so urteilt auch die Bundeswahlleiterin, Ruth Brand, in einem Brief an den Bundeskanzler, dass „insbesondere nicht etablierte Parteien“ mit dem Sammeln der Unterschriften mit den vorgezogenen Wahlen „unter zusätzlichem Zeitdruck“ stünden. Die oberste Wahlleiterin sieht weitere Herausforderungen durch einen baldigen Wahltermin, etwa wenn Gemeindebehörden den Papierkram nicht stemmen können oder Wahlämter überlastet sind, zum Beispiel mit der Briefwahl. Brand warnt abschließend, sie sehe „eine hohe Gefahr, dass der Grundpfeiler der Demokratie und das Vertrauen in die Integrität der Wahl verletzt werden könnte“.
Der Protest von Teschke bis Brand wirft ein Schlaglicht auf eine Frage des Rechtsstaats auf, die nur selten im Fokus der Debatten steht: Gibt die Demokratie den Minderheitsparteien und Splittergruppen faire Chancen? Oder verhindert die Macht der Großen von SPD bis Union einen offenen Wettbewerb?
Denn nicht nur das Wahlrecht ist nach Ansicht der Forschung eine höhere Hürde für die Kleinparteien. Auch die Parteienfinanzierung bevorzugt eher etablierte Parteien, denn historisch gewachsen ist sie in Deutschland als Kostenerstattung für den Wahlkampf. Entlohnt werden Parteien, die gute Ergebnisse erzielen, mindestens mehr als 0,5 Prozent der Stimmen. Das Ziel des Gesetzes: Machtmissbrauch verhindern – denn niemand soll Politik in erster Linie fürs Geldmachen anstreben. Doch diese Hürden gegen Missbrauch haben eben Nebenwirkungen, die vor allem die Kleinen spüren.
Für die Beantwortung lohnt ein Blick in die Geschichte: Nach der Gründung der Bundesrepublik erlebte das Land über viele Jahre ein stabiles Parteiensystem. Union, SPD und FDP teilten sich über viele Regierungszeiten die Sitze im Parlament. Die Politikwissenschaft spricht von „frozen party systems“, von eingefrorenen Parteienlandschaften.
Erst in den 1980er-Jahren zogen mit den Grünen neue Gesichter und Themen in den Bundestag ein. Danach war wieder viele Jahre Wendezeiten-Starre. Doch das hat sich geändert. „Wir haben in den letzten Jahren sogar erstaunlich viele erfolgreiche Neugründungen gesehen“, sagt die Rechtswissenschaftlerin Sophie Schönberger von der Universität Düsseldorf unserer Redaktion. 2012 erlebte die Piratenpartei ein Hoch. Kurz danach gründete sich die Alternative für Deutschland neu. Sie erwuchs aus einem weltweiten Aufstieg neuer rechter Parteien, der bis heute anhält. Und noch nicht einmal ein Jahr ist es her, da gründete Sahra Wagenknecht ihr neues Bündnis – und zog gleich als starke Kraft in erste Parlamente ein.
Und nicht nur das: Auch die Kleinstparteien gewinnen an Einfluss. Während bei den Wahlergebnissen der 1970er-Jahre der Stimmenanteil der „Sonstigen“ oft nur bei unter einem Prozent lag, erreichten die kleinen Parteien 2021 zusammen schon fast neun Prozent – mehr als vier Millionen Menschen. Die Gesellschaft differenziert sich aus, Bindungen an traditionelle Parteien schmelzen, so wie auch Kirchen und Gewerkschaften mit Mitgliederschwund kämpfen.
Das Bundesverfassungsgericht hält gerade die Auflösung für ein hohes Rechtsgut
Menschen suchen nach neuen politischen Heimaten. Die erfolgreichen Neugründungen können ein Indiz sein, dass der politische Markt fair und offen ist – dass die Demokratie funktioniert. Trotz Neuwahlen.
Ohnehin regelt die Verfassung nicht nur den Parteienwettstreit – es regelt auch die Auflösung des Bundestags, die ebenso ein Pfeiler der Demokratie sein kann. Denn wankt die Stabilität zwischen Regierung und Parlament, muss gehandelt werden. Auch schnell, so wie jetzt. Das Bundesverfassungsgericht hält gerade die Auflösung für ein hohes Rechtsgut.
Ein hohes Gut ist auch die Fünf-Prozent-Hürde. Wer weniger Zweitstimmen erhält, kommt nicht ins Parlament. Es ist eine historische Lehre, die Deutschland aus der Zeit der Weimarer Republik gezogen hat. Eine Zersplitterung des Parlaments in Kleinstparteien wie damals soll diese Hürde verhindern. Nur grenzt auch diese Regelung kleine Gruppierungen aus. Bei der Europawahl etwa gilt die Quote nicht, weshalb kleine Parteien wie Volt ihren Wahlkampf im Sommer auf diese Wahl konzentrierten.
Die Ampel-Koalition wollte die Fünf-Prozent-Regelung sogar noch verschärfen. Doch das Verfassungsgericht machte einen Strich durch diese Pläne – und forderte, dass wenigstens die Grundmandatsklausel bestehen bleibt. So können Parteien in den Bundestag einziehen, auch wenn sie bundesweit weniger Stimmen als fünf Prozent erhalten, aber mindestens drei Direktmandate erringen. An dieser Stelle schützt das Verfassungsgericht mit seiner Entscheidung im Sommer das Recht der kleinen Parteien – und damit auch den fairen Wettbewerb auf dem Markt der Macht.
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