Münster. Manche Wähler stimmen lieber „mit dem Sieger“ ab, als etwa nach Inhalten. Doch, „Wahlen sind kein Pferderennen.“ Das meint ein Politik-Forscher.

Ob „Sonntagsfrage“, „Deutschlandtrend“ oder „Vorwahlumfrage“: Wahlumfragen sind fester Bestandteil der politischen Berichterstattung, natürlich auch derzeit vor der Bundestagswahl am 23. Februar. Sie versuchen, die Stimmung in der Bevölkerung aufzugreifen und darzustellen. Sind es bloße Informationen, oder können Wahlumfragen selbst Wahlverhalten beeinflussen. Bernd Schlipphak, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Münster, sieht die Art der medialen Berichterstattung über Wahlumfragen kritisch:

Wie bewerten Sie den Einfluss von Wahlumfragen auf das Wahlverhalten?

Prof. Dr. Bernd Schlipphak: Tatsächlich scheinen Wahlumfragen einen Einfluss auf das Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger zu haben. In der Forschung kennt man dabei etwa den band-wagoning effect - also den Effekt, dass die Wählenden jene Person wählen, die in den Umfragen wie der Sieger oder die Siegerin aussieht. Dem gegenüber kann allerdings auch ein zu klar scheinender Vorsprung einer Partei dazu führen, dass die Wählenden dieser Partei nicht mehr zur Wahl gehen, weil das für sie positive Ergebnis schon zu sicher scheint. Dass es diese Effekte gibt, dafür haben wir - gerade im ersten Fall - auch aktuelle empirische Befunde aus experimentellen Studien. Wie groß diese allerdings in Wirklichkeit sind, ist schwer zu sagen. 

„Wahlumfragen scheinen tatsächlich einen Einfluss auf das Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger zu haben.“

Prof. Dr. Bernd Schlipphak
Politikwissenschaftler an der Universtität Münster

CDU führt in Umfragen - ein Problem am Wahltag?

Die CDU/Union ist in den Wahlumfragen seit Monaten vorne. Inwieweit kann das auch negative Auswirkungen haben, etwa bei erklärten CDU-Wählern, nach dem Motto: „Ich brauche nicht mit wählen, wir gewinnen ja ohnehin...“?

Der Effekt ist schwer vorherzusagen. Früher gab es in der Forschung aber die Wahrnehmung, dass ein solcher Effekt für die CDU weniger problematisch sein sollte als für andere Parteien, weil unter den CDU-Wählenden die Wahlteilnahme als Pflicht eines Bürgers oder einer Bürgerin noch relativ stärker als Wert verankert war und daher solche kurzfristigen Überlegungen für diese Wählerinnenschaft weniger Bedeutung haben sollten. 

Sahra Wagenknecht beklagte in diesem Zusammenhang jüngst in Bezug auf Wahlumfragen eine „öffentliche Lügenkampagne“, Wahlumfragen seien manipuliert. Ihre Partei, das BSW, liegt in den Umfragen konstant unter der 5-Prozent-Hürde. Wie ordnen Sie den Vorwurf ein?

Prof Bernd Schlipphak Universität Münster Politikwissenschaft
"Wahlumfragen scheinen einen Einfluss auf das Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger zu haben", sagt Bernd Schlipphak, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Münster. © Kathrin Kliss / Wissenschaftszentrum Berlin | Kathrin Kliss / Wissenschaftszentrum Berlin

Befragungsinstitute müssen mit der Situation umgehen, dass sie nicht alle Wählerinnen und Wähler aller Parteien mit der gleichen Wahrscheinlichkeit in den Umfragen erfassen können. Das hat zur Folge, dass meistens nicht die Ergebnisse der ursprünglichen Daten von den Instituten berichtet werden, sondern Ergebnisse, die mit sogenannten Gewichtungen ausgleichen sollen, dass eben manche Gruppen häufiger und andere weniger häufig an Umfragen teilnehmen.

Politikwissenschaftler: „Eine Bundestagswahl ist kein Pferderennen“

...wie können Wahlforscher hier reagieren?

Die Forschungsgruppe Wahlen beispielsweise unterscheidet transparent zwischen Daten der „Politischen Stimmung“ und der „Projektion“ - ersteres ist das, was man in den Umfragen sieht, und zweiteres ist das, was die Forschenden aufgrund ihrer Erfahrungen aus früheren Umfragen und Wahlen als voraussichtliches Ergebnis sehen. Es handelt sich dabei aber nicht um Manipulation, sondern um einen meist ernsthaften Versuch, die vorliegenden und den Instituten bekannten Schwächen in der Umfrageerhebung auszugleichen. Gleichwohl wäre es aber natürlich sehr wünschenswert, wenn alle Institute dem Vorbild der Forschungsgruppe Wahlen folgen und beide Ergebnisse offenlegen würden.

Welche Forderungen haben Sie in Bezug auf die mediale Berichterstattung über Wahlumfragen?

Dass mit Umfrageergebnissen Stimmungen gemacht wird, ist sicher zutreffend. Daran haben aber meist nicht - vornehmlich - die Umfrageinstitute schuld, sondern die mediale Berichterstattung darüber. In den Medien wird viel zu häufig über Umfragen berichtet, als sei die Bundestagswahl ein Pferderennen und als ob es wichtig sei, wer da momentan die Nase vorne hat.

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AfD-Wähler in Umfragen offenbar noch immer unterrepräsentiert

Was ist denn statt dessen für Sie wichtig?

Aus meiner Sicht sind Wahlen zunächst einmal Entscheidungen der Bürgerinnen und Bürger darüber, wer sie politisch vertreten soll. Und da sollte es um die unterschiedlichen Inhalte und Personen gehen, und nicht, ob sich zwischen zwei Zeitpunkten eine Partei um einen Prozentpunkt verschlechtert oder verbessert hat. Das wiegt umso schwerer, weil die meisten „Bewegungen“ der Zustimmungswerte über die Zeit im Rahmen eines Unsicherheitsbereichs liegen - d.h., wir gar nicht sicher sein können, ob es diese Bewegung wirklich in der Bevölkerung gegeben hat. Die seriösen Institute weisen auf diese Unsicherheiten immer hin, sie werden aber zu selten öffentlich kommuniziert oder wahrgenommen.

Trifft es noch zu, dass gerade Umfragen zur AfD einen größeren Unsicherheitsfaktor beinhalten, als zu Parteien der „demokratischen Mitte“?

Zieht man die transparent gemachten unterschiedlichen Ergebnisse der Forschungsgruppe Wahlen heran, scheint es weiterhin so zu sein, dass bestimmte Gruppen an Wählerinnen und Wählern häufiger oder weniger häufig an Umfragen teilnehmen. Offensichtlich gilt dabei, dass überdurchschnittlich viele Wählerinnen und Wähler der Grünen und unterdurchschnittlich viele Wählerinnen und Wähler der AfD in den Umfragen enthalten sind. Daher müssen die Umfrageinstitute wegen dieser Über-/Unterrepräsentation dieser Gruppen in den Umfragen die Ergebnisse entsprechend für ihre Prognosen anpassen.

HINWEIS: Unter dem Titel „Dynamik individueller Politikeinstellungen in Krisenzeiten (DiPol)“ führen Forschende der Universität Münster eine groß angelegte Studie durch. Die Wissenschaftler wollen dabei Wahlberechtigte befragen: „Wie fühlen Sie sich aktuell, was bereitet Ihnen Sorgen und was ist Ihnen wichtig für die Zukunft unseres Landes?“ Das Besondere an dieser Studie: Wer mitmacht, gibt seine Mailanschrift an und erhält dann täglich jeweils eine Mail mit Fragebogen. Man kann also täglich seine aktuelle Stimmung mitteilen und beleuchten. Die Studie läuft bereits, eine Anmeldung ist jederzeit, aber bis spätestens Donnerstag, 20. Februar, möglich. Zu der Umfrage geht es über diesen Link.