Essen. Selbst die Spezialisten der Essener Uniklinik kannten den Enzymdefekt des Jungen nicht. Die Diagnose war für seine Eltern ein Schock – und trotzdem wichtig.
Es war der 24. November, ein ganz gewöhnlicher Tag, an dem Franka Patt* erfuhr, dass ihr heute drei Jahre alter Sohn Ole* an einer seltenen Erkrankung leidet. „Adenylosuccinat-Lyase-Mangel, Orpha-Code 46“, lautete die Diagnose. Sie sagte den Eltern nichts. Es handele sich um eine Stoffwechselerkrankung, erklärten die Ärzte. Weltweit seien keine 100 Fälle bekannt und eine Therapie bisher „nicht verfügbar“.
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„Es war der 24. November vergangenen Jahres…“, beginnt Franka Patt – und schon fließen die Tränen. Zu frisch ist der Schock, die Nachricht „noch nicht wirklich realisiert“. „Sie haben so viele Fragen“, erklärt die junge Frau aus dem Kreis Unna. „Und Sie bekommen keine Antworten.“
„Er lachte so wenig“, erinnert sich Oles Mutter
Das ist typisch für eine seltene Erkrankung. Untypisch dagegen ist, wie schnell die Familie bei den Spezialisten landete: am EZSE, dem Zentrum für Seltene Erkrankungen (SE) der Essener Uniklinik. Die Patts tröstet es noch nicht, dass die Krankheit ihres Sohnes nun einen Namen hat; für sie brach eine Welt zusammen. Die meisten Menschen mit einer seltenen Erkrankung und deren Angehörige aber warteten jahrelang auf die richtige Diagnose, empfänden sie dann oft als „Erleichterung“, erklärt Privatdozentin Alma Osmanovic, die ärztliche Leiterin des EZSE.
Schwangerschaft und Geburt seien problemlos gewesen, erzählt Franka Patt; ein Test auf Trisomie 21 und andere Genveränderungen negativ; das Neugeborenen-Screening und die ersten Vorsorge-Untersuchungen beim Kinderarzt unauffällig. Doch Ole entwickelte sich langsam, „lachte wenig“. „Als er sich mit sechs Monaten noch nicht umdrehen konnte, wie die anderen Kinder in seiner Pekip-Gruppe, begannen wir, uns Sorgen zu machen.“ Der Kinderarzt riet zu Krankengymnastik, vier Monate später rollte sich Ole vom Rücken auf den Bauch!
Doch auch mit zwei war der Junge „noch weit vom Laufen entfernt“, „träumte“ zudem sehr viel und sehr intensiv, am hellen Tag, erzählt seine Mutter. „Er war dann gar nicht ansprechbar.“ Die Eltern wechselten den Kinderarzt.
Genetische Untersuchung brachte Klarheit
Die neue Ärztin zeigte sich alarmiert,schickte das Kind ins MRT, um einen Schlaganfall auszuschließen. Im März 2022 sagte sie den Eltern: „Es könnte eine Stoffwechselstörung sein“ und empfahl das EZSE. „Toll“, findet das Alma Osmanovic, „dass eine niedergelassene Kollegin so reagiert, wenn sie erkennt: Da passt ein Patient so gar nicht ins Schema.“
Im Institut für Humangenetik der Uniklinik Essen wurde Oles Erbgut untersucht – sein komplettes „Exom“, die Gesamtheit seiner 20.000 Gene. Seit 2021 kann Prof. Frank Kaiser, Leiter des Instituts, und Sprecher des EZSE, diese „Whole-Exom-Sequenzierung“ Patienten mit seltenen Erkrankungen anbieten. Im Rahmen eines „Selektivvertrags“ bezahlen verschiedene Krankenkassen sie. „Bis dahin durften wir nur eine ein- bis zweistellige Zahl von Genen testen.“
Oles Krankheit ist ultraselten, er hatte unfassbares Pech
Zwei Monate dauerte es, bis die Ergebnisse vorlagen – und klar war, dass Ole unfassbares Pech gehabt hatte. Seine Erkrankung ist nicht nur ultraselten -- sie trifft weniger als einen von einer Million Menschen. Sie wird zudem „autosomal rezessiv“ vererbt. Das heißt: Mutter und Vater, müssen eine entsprechende Genveränderung ans Kind weitergeben. „Und wie wahrscheinlich ist das, dass sich zwei Menschen als unwissende Anlageträger für einen solch seltenen Gendefekt treffen?“, fragt Kaiser. Alma Küchler, Privatdozentin und Leiterin der Spezialsprechstunde für Genommedizin, sagt: „Keiner von uns hat Adenylosuccinat-Lyase-Mangel zuvor gesehen…“
Und wie kann man Ole dann helfen? „Hätten wir nicht von seiner Krankheit erfahren, hätten wir vielleicht weiter geglaubt, das wird schon noch“, erklärt Franka Patt. Doch die „Träumereien“ ihres Kindes sind „Absencen“, eine Form der Epilepsie, weiß sie jetzt. Und in seiner Entwicklung fehlen „Meilensteine“, obwohl man das Ole nicht auf den ersten Blick ansieht. „Psychomotorische Retardierung, autistische Verhaltensstörungen und epileptische Anfälle“ sind Symptome seines Enzymdefekts, hat sie nachgelesen.
„Wir haben ihn jetzt in einem integrativen Kindergarten angemeldet. Er bekommt zweimal in der Woche Logopädie und zweimal Physiotherapie, außerdem heilpädagogische Frühförderung. Ohne die Diagnose hätte er all das womöglich verpasst. Deshalb ist es gut zu wissen, was ist. Um ihm adäquat helfen zu können!“ Anderen Eltern, ergänzt Küchler, nehme die Diagnose auch die Schuldgefühle. „Sie wissen dann, sie haben nichts falsch gemacht.“
Über Frank Kaiser haben Oles Eltern inzwischen auch Kontakt zu einer deutschen Familie in Italien. „Die beiden Söhne, 17 und 23, leiden ebenfalls an ADSL-Mangel“, erzählt Patt. Sie habe sie angerufen, wollte wissen, wie es den Jungen geht. „Ganz gut“ erfuhr sie, „sie können sehr viel. Aber wohl niemals allein leben.“
Modellvorhaben erlaubt Analyse des gesamten Genoms
Doch die Verläufe seltener Erkrankungen sind sehr unterschiedlich, schwer vorhersagbar. Auch darum sammeln die Zentren Wissen, vernetzen sich international. Die Ungewissheit, was in zehn, 20 Jahren sei, sei „furchtbar“, sagt Patt. „Doch auch die Phase des Suchens nach der Diagnose kostet Nerven“, weiß Osmanovic. „Und man muss die Diagnose kennen, um eine Therapie entwickeln zu können. Und da sitzen wir hier in einer echten Pole-Position…“ Frank Kaiser setzt dabei auch auf ein weiteres Modellvorhaben, für das die Uniklinik Essen gerade als einer von bundesweit 18 Standorten ausgewählt wurde: Fünf Jahre lang zunächst dürfen sich die Humangenetiker tatsächlich das gesamte „Genom“ ihrer Patienten anschauen, „nicht nur das Exom“, erklärt Kaiser. Das Genom umfasst sehr viel mehr Erbinformationen als das Exom.
Alma Osmanovic ergänzt, man müsse vorsichtig sein mit dem Begriff „Heilung“. „Für viele seltene Erkrankungen ist es noch ein weiter Weg bis dahin. Aber für SMA (Spinale Muskelatrophie) wurde eine Therapie gefunden, und das ging verhältnismäßig schnell. “
„Wie lange hat es gedauert, bis es soweit war“, fragt Franka Patt. 25 Jahre, erfährt sie.
*Namen geändert
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