Essen. Spanien ist viel weiter, sagt die Essener Expertin Ebru Yildiz. Dort gilt die Widerspruchslösung, die auch NRW-Gesundheitsminister Laumann fordert.
- In NRW gab es 2023 166 Organspender - hochgerechnet auf die Bevölkerung gehört das Bundesland zu den Schlusslichtern in Deutschland.
- Rund 1800 Menschen in NRW warten auf eine Organspende.
- Dr. Ebru Yildiz war lange Transplantationsbeauftragte des Essener Uniklinikums und leitet seit 2019 das Westdeutsche Zentrum für Organtransplantationen.
Deutschland ist, was die Zahl der Organspender angeht, Schlusslicht im internationalen Vergleich – und NRW steht besonders schlecht da. Woran liegt das, wie kann man es ändern? Dr. Ebru Yildiz, Leiterin des Westdeutschen Zentrums für Organtransplantation Essen, ist das Thema eine Herzensangelegenheit. Ute Schwarzwald hat mit ihr gesprochen.
1.800 Menschen in NRW warten auf Spenderorgane. Doch im vergangenen Jahr gab es landesweit nur 166 Organspender. Wie viele Schwerkranke auf der Warteliste Ihres Transplantationszentrums sind 2023 gestorben?
Yildiz: 54. Konkret waren es 17 Menschen, die auf eine Niere gewartet haben. 30, die eine neue Leber brauchten. Sechs sollten eine Lunge und einer ein Herz bekommen. Auf der Warteliste standen allein bei uns hier in Essen 655 Männer, Frauen und Kinder, die auf 443 Nieren, 76 Lebern, 73 Lungen und 63 Herzen hofften.
Wie lange warten Patienten im Schnitt auf eine neue Niere, das am häufigsten gesuchte Organ?
Acht Jahre. Um die Dramatik dieser Zahl zu verdeutlichen: Als ich 2007 mein Medizin-Studium abgeschlossen habe, waren es sechs.
Je früher jemand transplantiert wird, desto besser sind aber seine Chancen?
Ja, das ist wirklich so. Je gesünder die Patienten vor der Transplantation sind, desto besser funktionieren ihre Transplantate. Dass wir es aktuell aber vor allem mit sehr kranken Patienten zu tun haben, zeigt, wie wichtig es ist, für das Thema zu kämpfen. Auch wenn jeder transplantierte Mensch eine bessere Lebensqualität als zuvor hat.
Die Menschen werden älter und sie sterben weniger häufig an Verkehrsunfällen. Immer weniger kommen als Organspender überhaupt infrage. Woran aber liegt es, dass die Spender-Zahlen in NRW sinken, während sie bundesweit steigen?
Dafür gibt es keine gute Erklärung, keine Evidenz. Man kann das nicht seriös auf Bundesländer runterbrechen. Die meisten Organspender sterben auch längst nicht mehr bei einem Verkehrsunfall, sondern nach einem Schlaganfall oder weil ihr Blutdruck so hoch war, dass Gefäße im Hirn platzen. Tödliche Verkehrsunfälle sind, um wenigstens einen Ansatz zu finden, in Nordrhein-Westfalen aber deutlicher seltener als etwa in Sachsen-Anhalt. Hier waren es 20 im vergangenen Jahr, dort 70. Die Medizin ist eben auch sehr viel besser geworden, wir können neurochirurgisch viel mehr helfen als früher. Das Problem ist ein bundesweites: Es fehlt uns an Awareness, an Bewusstsein für die Problematik.
Tatsächlich sind uns Spanien und andere europäische Länder weit voraus in Sachen Organspende – weil dort die Widerspruchs- und nicht die Zustimmungsregel gilt? Umfragen zufolge stehen doch auch bei uns 84 Prozent der Menschen einer Organspende positiv gegenüber…
Ja, die Zahlen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung kenne ich. Aber die haben ihre Umfrage offenbar nicht in Krankenhäusern gemacht, sondern an schöneren Orten. In den Kliniken sehen wir zehn Prozent, die ihre Entscheidung zur Organspende dokumentiert haben. Und die Hälfte der Angehörigen, mit denen wir in den anderen Fällen sprechen, sagen „Nein“. In Spanien gibt es eine ganz andere Organspende-Kultur. Die Widerspruchslösung – jemand erklärt zu Lebzeiten, dass er eine Organspende nach seinem Tod ablehnt – hat dort dazu geführt, dass Organspende etwas ganz Normales ist. Ich hoffe, dass das hier auch irgendwann passieren wird. Sicherlich wird es aber nicht so schnell so kommen.
Woran liegt das? Haben die Organspendeskandale in Deutschland die Menschen so verunsichert?
Ja, das haben sie. Das merken wir vor Ort. Immer wieder werden wir darauf angesprochen.
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Menschen haben auch Angst, dass sie nicht optimal versorgt werden, wenn sie einen Organspendeausweis bei sich tragen.
Das ist eine der größten Ängste. Aber sie ist unbegründet: Als Intensiv- und Transplant-Medizinerin weiß ich, dass nur Menschen, die optimal intensivmedizinisch versorgt werden, nach ihrem Tod überhaupt als Spender infrage kommen. Menschenleben zu retten ist zudem vornehmlichste Aufgabe von uns Ärzten. Der Mensch, der vor uns im Bett liegt, der zählt. Ein Menschenleben zu opfern, um ein anderes zu retten – das wäre so gesehen unsinnig.
Warum, fragen sich andere, werden dem Spender bei der Entnahme-Operation Schmerz- und Narkosemittel verabreicht? Warum ist ein Anästhesist dabei, wenn der Patient doch tot ist?
Man gibt keine Schmerzmittel und keine Narkotika, sondern Muskel-Relaxantien, die unwillkürliche Reflexe des Körpers unterdrücken. Der Anästhesist kontrolliert die organfunktionserhaltenden Maßnahmen. Und um die nächste Frage vorwegzunehmen: Nein, nach der Operation muss der Spender auch nicht eingeäschert werden....
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... ja, das beschäftigt auch: Was passiert mit dem Körper des Organspenders, nachdem ihm die Organe entnommen wurden?
Er wird versorgt wie alle Operierten, die Wunden werden vernäht oder geklammert. Der Leichnam wird für eine Aufbahrung – selbst im offenen Sarg – vorbereitet. Die Hinterbliebenen können den Toten so bestatten, wie sie es möchten. Die Angehörigen können auch schon bei uns Abschied nehmen. Wir haben dafür einen eigenen Organspender-Verabschiedungsraum hergerichtet.
Kommen wir auf die Entnahmekliniken zu sprechen, die womöglich andere Seite des Problems. Wird jeder potenzielle Organspender tatsächlich erkannt und gemeldet?
Ich kann nur für unser Haus sprechen, das ja nicht nur Transplant-Zentrum, sondern eben auch Entnahmeklinik ist. Bei uns ist das so und es klappt gut. 52 potenzielle Spender haben wir der DSO im vergangenen Jahr gemeldet. Ich denke, seit jede Klinik freigestellte Transplantationsbeauftragte beschäftigen muss, fällt es auch den Kliniken vor Ort leichter. Es gab bundesweit im vergangenen Jahr 3.256 sogenannte DSO-Kontakte.
52 potenzielle Spender in Essen, sagen Sie. Aber die DSO zählte bei Ihnen 2023 nur elf Organspender ( und 30 gespendete Organe). Ist das viel oder wenig? Können Sie im eigenen Haus nicht mehr erreichen?
Leider ist das viel. Wir liegen mit unseren elf Organspendern bundesweit auf Platz 3 bei den Maximalversorgern. Und intern gibt es bereits eine sehr große Awareness, jeder neue Mitarbeiter wird mit dem Thema konfrontiert, es gibt in der Einführungswoche Vorträge und Gespräche dazu. Das Problem ist: Bei 31 der 52 potenziellen Spender, die wir der DSO gemeldet haben, gab es keine Einwilligung. Bei fünf konnte zudem der Hirntod nicht zweifelsfrei festgestellt werden und weitere fünf schieden nach den Vorab-Untersuchungen wegen medizinischer Kontraindikationen als Spender aus. Wir drängen aber Angehörige nie zu einer Spende. Wir schicken unsere erfahrensten Ärzte in solche Gespräche, um aufzuklären und wir fragen sie: Was hätte der Verstorbene gewollt? Aber wir bauen in der Trauer-Situation sicher keinen Druck auf. Am Thema muss man früher arbeiten, das lösen Sie nicht in der Klinik, wenn gerade ein Mensch gestorben ist.
Der beste Weg, für Klarheit zu sorgen, ist, zu Lebzeiten den eigenen Willen zu dokumentieren, etwa im Organspendeausweis?
Natürlich. Ein Ja oder Nein zur Organspende entlastet die Angehörigen enorm. Müssen sie entscheiden, bleibt ein Leben lang die Unsicherheit: Habe ich richtig entschieden?
Was erhoffen Sie sich vom neuen Organspende-Register?
Es handelt sich um ein sehr hochschwelliges Angebot, es ist sehr schwierig, sich anzumelden, man braucht zwei verschiedene Apps dazu. Nichtsdestotrotz plädiere ich vehement dafür, sich zu registrieren. Das wird Vertrauen schaffen und irgendwann auch helfen. Die Entnahmekliniken müssen ja da reinschauen. Ein im Organspendeausweis dokumentierter Wille ist nirgendwo registriert.
In Essen bereiten Sie inzwischen Organe, die als „grenzwertig“ eingestuft werden, mittels „Maschinenperfusion“ vor der Transplantation auf, um sie doch noch verwenden zu können. Und Organe von älteren Spendern, die für jüngere Empfänger nicht infrage kämen, gehen an ältere Patienten. Sind das Ideen, die aus der Not geboren wurden oder ist das die Zukunft der Transplantationsmedizin?
Seit 2019 haben wir mehr als 100 solcher zunächst als grenzwertig eingestufter Organe transplantiert. Und die haben sehr gut funktioniert, das sehen wir in der Nachverfolgung. Gleiches gilt für unser „Old-to-Old“-Programm: Einem Kind helfen sie mit dem Herzen eines 80-Jährigen vielleicht nicht, einem Gleichaltrigen womöglich doch. Deutschland steht aber noch ganz am Anfang dieser Entwicklung. In den USA werden selbst Lebern mit Hepatitis C aufbereitet und transplantiert.
Hinweis der Redaktion: Dieses Interview ist am 18. März erstmals auf waz .de veröffentlicht worden.