Bottrop. Pflegeheim-Bewohner in NRW erhalten mehr Beruhigungspillen als anderswo. Sie entwickeln auch häufiger „Dekubitus“, fand die AOK jüngst heraus.
Da ist diese alte Dame mit der Demenzerkrankung, Bewohnerin des Bottroper Malteser-Stifts St. Suitbert. Vormittags ist sie zufrieden, völlig unauffällig. Aber nach dem Mittagessen wird sie sehr unruhig, fragt ängstlich, wo ihre Sandra bloß bleibe, beginnt zu weinen. Tag für Tag. Mitarbeiter des Heims gehen dann mit der alten Dame eine Runde um den Block. Manchmal sagen sie ihr, dass ihre Tochter noch auf dem Spielplatz sei oder bei einer Freundin; sie komme heute nicht direkt nach der Schule heim. „Man könnte der Frau, die sich um ihr Kind sorgt, die vergessen hat, dass es längst erwachsen ist, auch Melperon geben“, sagt Artur Krämer, der Leiter des Hauses. „Aber schon unser täglicher Impuls, der kleine Spaziergang, wirkt. Danach ist die Frau wieder zufrieden.“
Es geht im Pflegeheim also doch ohne Beruhigungsmittel? „Nicht immer, leider nein“, sagt Krämer. Doch warum werden in NRW mehr davon verabreicht als anderswo? Warum gibt es hier auch mehr Dekubitus-Fälle oder mehr Krankenhaus-Einweisungen von Heimbewohnern? Im „Qualitätsatlas Pflege“, den die AOK jüngst veröffentlichte, schneidet Nordrhein-Westfalen bei fast allen erfassten „kritischen Ereignissen in der pflegerischen, ärztlichen und therapeutischen Versorgung“ schlechter ab als andere Bundesländer.
Der AOK-Qualitätsatlas Pflege: „290 spannende Seiten. harter Stoff“
Elke Hammer-Kunze kennt den Report, natürlich, sie spricht von „hartem Stoff, 290 spannenden Seiten“ – die unbedingt im Landesausschuss Pflege vorgestellt werden müssten. „Damit wir alle gemeinsam nach Lösungen im Interesse der Betroffenen suchen können.“ Hammer-Kunze ist stellvertretende Geschäftsführerin des Awo-Bezirksverbands Westliches Westfalen und Vorsitzende des Ausschusses „Pflege, Gesundheit und Alter“ der Landesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtspflege. 60 Prozent der 2323 Alten- und Pflegeheime in NRW sind in gemeinnütziger Trägerschaft. Dass NRW so schlecht abschneide, habe mit den Versorgungsstrukturen im Land und „den übrigen Playern“ zu tun, glaubt Hammer-Kunze.
Patientenschützer kritisiert Report: „Mangelnde Tiefe“
Tatsächlich fühlt sich Artur Krämer als Heimleiter nicht „angegriffen“ durch die Veröffentlichung der Krankenkasse. Dazu seien die Aussagen „zu pauschal“. Darüber, wie es vor Ort konkret aussehe, sagten die Zahlen nichts. Auch für Eugen Brysch, Vorstand der Dortmunder Stiftung Patientenschutz, krankt der AOK-Report an „,mangelnder Tiefe“. „Die Studie wollte ganz bewusst keine Transparenz für jede einzelne Einrichtung abbilden. Aber ein solcher Fokus ist notwendig.“
87 Mitarbeitende versorgen in St. Suitbert 90 Bewohner und Bewohnerinnen. Der Altersdurchschnitt liege aktuell bei 86, sagt Krämer, der Pflegebedarf sei bei den meisten „eher höher“. Zum Haus gehören 80 vollstationäre Pflegeplätze und zehn in der Kurzzeitpflege, ein Schwerpunkt für Schlaganfallpatienten und einer für schwer dementiell Erkrankte. In deren „Wohnzimmer“ - das auch aussieht wie eines – sitzen die Bewohner gerade zusammen, es duftet noch nach dem Rührei, das zum Frühstück serviert wurde, auf rot-weißem „Burgenland-Geschirr“, das mancher Heimbewohner wohl noch aus dem eigenen Haushalt kennt. Auf den Fensterbänken stehen Topfblumen; auf einer Anrichte stapeln sich Zeitschriften, obenauf die „Bunte“ vom 31. Juli 1981, „Dianas Märchenhochzeit“ titelt das Blatt; auf dem Plattenspieler liegt eine alte LP, Schlager „Bis früh um fünfe“; die Stimmung ist bestens.
„Wir gucken immer: Können wir das ohne Medikamente regeln? Es klappt nicht immer“
Und doch kommt es auch hier vor, dass ein alter, kranker Mensch rund um die Uhr schreit – und niemandem erklären kann, warum. Oder dass jemand aggressiv wird gegenüber anderen, nicht nur verbal; Teller sind schon quer durch den Raum geflogen. „Jeden einzelnen Bewohner, jede Verhaltensauffälligkeit, jede Situation muss man sich genau anschauen. Und gucken: Können wir das über Pflege oder Begleitung irgendwie regeln?“, erklärt Krämer. „Aber das klappt nicht immer.“ Knapp ein Drittel der Bewohner, erläutert er, bekämen Medikamente, „immer in Absprache mit dem Arzt“.
Pflegeheime, bestätigt Elke Hammer-Kunze, setzten nur die hausärztlichen Verordnungen um; man müsse daher eher die ärztliche Versorgungsleistung kritisieren, als „uns als Leistungserbringer in den Heimen“. Doch die Zusammenarbeit sei nicht immer gut, Fachärzte ließen sich in vielen Heimen kaum noch blicken, „das drückt uns“. St. Suitbert kooperiert mit einer Bottroper Hausarzt-Praxis („die ist auch nach Feierabend noch ansprechbar“), einmal im Monat kommt zudem ein Neurologe ins Haus. „Damit ist dieses Heim in einer glücklicheren Lage als andere Häuser“, räumt Joscha Wienholt ein, Regionalgeschäftsführer West I bei den Maltesern.
Psychopharmaka ohne Verordnung: „Körperverletzung“
Patientenschützer Brysch fordert, Mechanismen und Ursachen „ruhigstellender“ Maßnahmen aufzudecken. So müsse etwa geklärt werden, ob Ärzte im Westen Medikamente womöglich zu oft „auf Zuruf aus der Pflege verschreiben“. „Psychopharmaka ohne medizinische Notwendigkeit zu geben, (ist) keine Bagatelle. Hier stehen Körperverletzungen im Raum.“ Kein Heimbewohner erhalte Medikamente „allein zur Ruhigstellung“ wehrt sich Joscha Wienholt. „Darum geht es doch gar nicht.“ Selbst wenn wundersamerweise plötzlich mehr Pflegekräfte zur Verfügung stünden, „würden wir nicht mit weniger Medikamenten auskommen“, meint er.
Stichwort Dekubitus: Auch der lässt sich nicht immer verhindern, sagen die aus der Praxis. „Das ist ein Thema in jeder Einrichtung“, erklärt Krämer. „Manche Bewohner kommen schon zu uns mit einem, den sie von zuhause oder aus dem Krankenhaus mitbringen. Andere entwickeln ihn im Heim, trotz spezieller Matratze, Lagerung und Massage….“ Ein „intern“ erworbener Dekubitus gelte als „Pflegefehler“, auch darum gebe man sich alle Mühe, ihn zu vermeiden. „Aber man muss auch wissen“, sagt Wienholt, „dass die benötigten Hilfsmittel für eine angemessene Versorgung gefährdeter Patienten, beispielsweise Wechseldruckmatratzen, von den Kassen erst bezahlt werden, wenn die Wunde schon entstanden ist...“. Krämer hat für sein Heim mehr als eine dieser Matratzen auf eigene Kosten angeschafft, 1200 Euro zahlte er für die letzte.
Pflegefehler Dekubitus: Heime fürchten das Wundliegen
Auch das Thema Krankenhaus-Einweisungen brenne den Heimen „auf den Nägeln“, sagt Hammer-Kunze. „Bei uns wird leichter und öfter eingewiesen, das ist fast schon Routine.“ Aber viel zu oft kämen Bewohner aus den Kliniken „völlig verwirrt und wund“ zurück. Sie mache der Krankenhauspflege keinen Vorwurf, „die sind nicht mehr darauf ausgerichtet, einen 98-Jährigen mit porösem Hautbild stündlich zu betten, aber wir brauchen Wochen, bis wir diesen Menschen wieder auf Normalzustand haben“. Auch wenn es im Abschlussbrief der Klinik heiße „Haut ist intakt“ fänden sich nicht selten wunde Stellen an Ferse, Gesäß oder Steiß, berichtet Krämer. „Und dehydriert kommen sie alle zurück“, sagt Wienholt.
Auf der Suche nach einer Erklärung für das schlechte Abschneiden NRWs fragt sich Hammer-Kunze zudem: „Sprechen wir in allen Bundesländern über die gleiche Klientel?“ In NRW würden etwa zunehmend mehr Menschen mit Suchtproblematiken in Pflegeheimen gezählt: Ex-Drogenabhängige von 60 oder 65 Jahren „mit allen Folgeerkrankungen“, sogar Substitutionspatienten. „Sie in Pflegeheimen unterzubringen ist billiger als in spezialisierten Einrichtungen...“
Joscha Wienholt hat lange überlegt, wie die von der AOK gefundenen Unterschiede in der stationären Versorgung von Pflegebedürftigen zu erklären sind. Er könne nur spekulieren, sagt er. Aber vielleicht sei die hohe Dichte der Einrichtungen in NRW ein Ansatz? Mit seinen vielen Pflegebedürftigen sei der Markt für private Träger „sehr attraktiv“. „Die sind auch keineswegs alle schlecht, aber doch von unterschiedlicher Qualität.“
„Wir machen hier, was wir können“, sagt schließlich Artur Krämer, der Heimleiter.
>>> INFO: AOK-Qualitätsatlas Pflege - die Zahlen
Für ihren „Qualitätsatlas Pflege“ hat die AOK bundesweit Abrechnungsdaten von rund 350.000 Pflegeheim-Bewohnern analysiert. Der Fokus lag dabei auf den drei Punkten: fehlende Prävention, kritische Arzneimittelversorgung und vermeidbare Krankenhausaufenthalte. Dabei wurden im untersuchten Jahr 2021 sehr große regionale Unterschiede festgestellt.
In NRW erhielten demnach 12,8 Prozent der pflegebedürftigen Heimbewohner bedenklich viele Schlaf-. und Beruhigungsmittel. In Brandenburg waren es nicht einmal 3,5 Prozent. Auch innerhalb NRWs schwankten die Zahlen erheblich: So wurden 6,4 Prozent der Heimbewohnern in Duisburg Schlaf- und Beruhigungsmittel verabreicht und 18,3 Prozent derjenigen in Bottrop.
Neun und mehr verschiedene Wirkstoffe erhielten in den NRW-Heimen fast 39 Prozent, in keinem anderen Bundesland waren es so viele. Psychopharmaka bekamen hier 10,4 Prozent, aber in Berlin nur 4,8. In NRW wurden Heimbewohner zudem häufiger in Kliniken eingewiesen und auch Dekubitus, das gefürchtete „Wundliegen“, trat in NRW-Heimen der AOK-Statistik zufolge „deutlich“ häufiger auf, nämlich bei 12,3 Prozent der pflegebedürftigen Heimbewohner, 54.780 Menschen.