Essen. Die Uniklinik Essen durchleuchtet das gesamte Erbgut von Patienten mit seltenen Erkrankungen. Welche Hoffnung damit verbunden ist.
Sie haben jahrelang auf eine Diagnose gewartet, vergeblich in vielen Arztpraxen gesessen: Patienten mit einer seltenen Erkrankung begegnen auch in der Medizin oft Ratlosigkeit. Die Uniklinik Essen will ihnen nun schneller Antworten geben, in dem sie das gesamte Erbgut (Genom) der Betroffenen durchleuchtet. Möglich ist das im Rahmen eines vom Bund finanzierten Modellprojekts. Der Direktor des Instituts für Humangenetik, Prof. Dr. rer. nat. Frank Kaiser, spricht lieber von einem Meilenstein.
Essener Forscher wollen Patienten zu schnellerer Diagnose verhelfen
Als selten gilt eine Erkrankung laut EU-Definition, wenn höchstens einer von 2000 Menschen davon betroffen ist. Bei manchen der etwa 8000 Krankheiten gibt es nur eine verschwindend geringe Zahl von Patienten: So leiden etwa unter der Progerie – einer rasant beschleunigten Alterung – weltweit nur etwa 200 Kinder. Die Symptome und Verläufe der seltenen Erkrankungen sind äußerst unterschiedlich, sodass es oft ein purer Glücksfall ist, wenn Betroffene auf den Experten treffen, der sich mit ihrem Krankheitsbild auskennt.
Mit dieser Situation müsse man sich nicht länger abfinden, sagt Prof. Kaiser: „Mindestens 80 Prozent der seltenen Erkrankungen haben eine genetische Ursache.“ Schaut man sich also das Genom der Betroffenen an, kann man die Diagnose erheblich beschleunigen. Bei dieser Genomsequenzierung habe Deutschland allerdings lange im internationalen Vergleich weit zurückgelegen, „weil das nicht als Teil der Krankenversorgung anerkannt war“. Bis vor zwei Jahren trugen die Krankenkassen lediglich eine Untersuchung, bei der man bestenfalls eine zweistellige Zahl von Genen erfasste.
Betroffene haben oft eine lange Leidensgeschichte hinter sich
Im Jahr 2021 sollte sich das ändern: Seither konnten Kaiser und sein Team vielen Patienten eine Exom-Sequenzierung anbieten. Dabei werden alle circa 20.000 Gene analysiert. Das Exom umfasst zwar kaum zwei Prozent des gesamten Genoms, doch findet sich hier der Großteil aller bekannten krankheitsverursachenden Varianten (landläufig Mutationen). So bekamen viele Betroffene nach einer oft langen Leidensgeschichte endlich Klarheit.
Da finden sich Mütter, die sich jahrelang Vorwürfe machen, sie könnten in der Schwangerschaft ein Medikament genommen haben, das ihr Kind geschädigt hat. Da hatten andere Betroffene eine Odyssee durch Behandlungszimmer hinter sich und immer wieder erlebt, dass man sie nicht ernst nahm. „Die Patienten hatten teils 20 schlimme Jahre hinter sich. Wenn wir denen ihre Diagnose mitteilen, fließen Freudentränen.“ Auch wenn es eine heftige Diagnose ist.
Expertengruppe schaut sich jeden Fall an
Kaiser ist Leiter des Instituts für Humangenetik und Universitätsprofessor. „Doch hier ist der Fokus nicht abstrakte Forschung, sondern konkrete Krankenversorgung – in Kombination mit der Erforschung genetischer Ursachen von Erkrankungen.“ Möglich wurde das durch sogenannte Selektiv-Verträge mit verschiedenen gesetzlichen Krankenkassen, die ihren Patienten die Exom-Sequenzierung bezahlten.
Forscher wollen medizinische Versorgung verbessern
Das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz von 2021 hat in § 64e SGB V ein Modellvorhaben zur Diagnostik und Therapiefindung mittels Genomsequenzierung bestimmt.
Bei dem millionenschweren, über fünf Jahre laufenden Vorhaben finden ab 2024 an verschiedenen Klinikstandorten umfangreiche Genomsequenzierungen im Rahmen der klinischen Behandlung statt. Die genomischen Daten werden mit der klinischen Geschichte der Patienten hinterlegt und analysiert. Der große Datenpool soll zur Verbesserung der medizinischen Versorgung beitragen.
Die deutschlandweit gut 20 teilnehmenden Zentren nehmen onkologische Erkrankungen (Krebs) oder – wie Essen bislang – seltene Erkrankungen in den Blick; möglich ist auch, beide Felder zu untersuchen. So streben es auch die Essener an.
Wenn Forscher neue Genvarianten (Mutationen) finden, gleichen sie diese in internationalen Datenbanken ab. Finden sich Übereinstimmungen, tauschen sich die beteiligten Wissenschaftler über das dazugehörige Krankheitsbild ihrer Patienten aus.
Zweiter Baustein des laufenden Projekts ist die enge Zusammenarbeit mit dem Essener Zentrum für seltene Erkrankungen (EZSE), das am Uniklinikum angesiedelt ist. Es ist gleichsam das Portal, das Betroffenen Zugang zu der neuen Diagnostik verschafft. Ob die zielführend sein könnte, entscheidet eine Expertengruppe, zu der neben Humangenetikern und Bio-Informatikern verschiedene Fachärzte wie Neurologen, Kinderärzte, Kardiologen oder Endokrinologen gehören. „Die multidisziplinäre Fallkonferenz ist ein Riesengewinn“, sagt Prof. Kaiser. Sie gleicht später auch das Krankheitsbild mit den erhobenen Daten ab.
Gerät kann 120 Genome in zwei Tagen sequenzieren
Wenn die Arbeit im kommenden Jahr auf eine noch breitere Basis gestellt wird, ist die Fallkonferenz weiter mit an Bord. Durch das eingangs erwähnte Modellvorhaben könnten dann alle Kassenpatienten mit einer seltenen Erkrankung von der Sequenzierung profitieren, sofern sie bestimmte Kriterien erfüllen. Außerdem sequenzieren die Wissenschaftler um Prof. Kaiser dann nicht nur das Exom – sondern das gesamte Genom.
Wertvoller Mitarbeiter ist dabei das hochmoderne Sequenziergerät NovaSeq X Plus, das laut Kaiser deutschlandweit erst an wenigen universitären Standorten zu finden ist, und laut Hersteller etwa 1,5 Millionen Euro kostet. Es kann in zwei Tagen 120 Genome sequenzieren. Ein aberwitziges Tempo, wenn man sich vor Augen führt, dass es fast ein Jahrzehnt dauerte, bis es dem Human Genom Projekt (HGP) und dem konkurrierenden Wissenschaftler Craig Venter im Jahr 2001 fast zeitgleich gelang, erstmals das menschliche Genom zu entschlüsseln. „Und das hatte noch größere Lücken“, sagt Kaiser.
Für manche seltene Erkrankung gibt es gute Behandlungsmöglichkeiten
Seither hat sich die Genomsequenzierung enorm beschleunigt. Wenn nun mühelos das gesamte Genom eines Patienten bestimmt werden kann, liefert das eine riesige Datenmenge, die nicht allein von künstlicher Intelligenz bearbeitet werden kann. „Am Ende landen wir bei einer Liste von Varianten, die ein Mensch mit entsprechender Expertise bewerten muss.“
Und so können weiterhin einige Monate vergehen, bis die Betroffenen eine Diagnose bekommen. „Zuvor lebten sie teils jahrelang mit einer falschen Diagnose – und vielleicht sogar einer falschen Behandlung.“ Dabei gebe es mitunter auch einfache Therapien zur Minderung der Symptome.
Diagnose ist für viele Eltern ein Schock
Bei Neugeborenen soll das Untersuchungsergebnis binnen 14 Tagen vorliegen, denn oft sei das Zeitfenster für eine Behandlung klein. Doch während Eltern, die jahrelang auf eine Diagnose für ihr Kind gewartet hätten, häufig erleichtert reagierten, überwiege der Schock, wenn Mütter und Väter schon bald nach der Geburt erfahren, dass ihr Baby eine schwere Erkrankung hat.
Auch mit der Genomsequenzierung könne man nicht alle seltenen Erkrankungen lösen. Bei gut 98 Prozent des Erbgutes gebe es noch viel „Black Box“, sagt Kaiser. Klar sei aber, dass es lohne, den genetischen Hintergrund weiter auszuleuchten. „Wir sehen viele krankheitsrelevante Varianten, die wir gar nicht auf dem Radar hatten.“ Das sei ein gigantischer Schritt nach vorn. Im nächsten Schritt hoffe man, neben der Diagnostik auch die Behandlung vieler seltener Erkrankungen verbessern zu können.
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