Essen. In Deutschland arbeiten über 400.000 Ärzte, trotzdem fehlen Hausärzte. Aber mit diesen Auswegen kann man wirksam gegensteuern
- In NRW sind rund 1000 Hausarztsitze nicht besetzt. Zugleich stehen viele Hausärztinnen und Hausärzte vor dem Ruhestand.
- Junge Medizinerinnen und Mediziner wollen lieber angestellt arbeiten - deshalb fehlen unterm Strich Hausärzte bald auch in derzeit noch gut versorgten Großstädten.
- Abhilfe schaffen könnten Digitalisierung, neue Berufsbilder und weniger Bürokratie.
NRW braucht dringend neue Hausärztinnen und Hausärzte. In Westfalen sind über 40 Prozent der Allgemeinmediziner über 60 Jahre alt, im Rheinland ist jeder Vierte älter als 63 Jahre. In manchen Städten steht sogar jeder dritte Hausarzt kurz vor dem Rentenalter. Nachfolger sind aber nicht in Sicht. Weniger als die Hälfte der Medizinstudierenden kann sich vorstellen, eine eigene Praxis zu haben, das ist das Ergebnis einer Befragung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Die Studierenden wollen lieber angestellt arbeiten, um geregelte Arbeitszeiten zu haben und Beruf und Familie miteinander vereinbaren zu können.
Es droht also eine Unterversorgung mit Hausärzten – und das, obwohl in Deutschland im internationalen Vergleich vergleichsweise viele Ärzte leben, 416.000 praktizierende Medizinerinnen und Medizinern sind es insgesamt. Gibt es da keine Lösung? Wir haben uns fünf Maßnahmen angeschaut und erklären, was sie bringen könnten.
1. Von wegen Sprechstundenhilfe: Wie neue Berufe Ärzte entlasten könnten
Der Inhaber einer hausärztlichen Praxis verbringt Expertenschätzungen zufolge etwa 20 Prozent seiner Arbeitszeit mit Dokumentation und Praxismanagement. Das heißt konkret: Die Ärztinnen und Ärzte kümmern sich in dieser Zeit nicht um Patienten, sondern beschäftigen sich etwa mit der Frage, ob der Teppich an der Patientenannahme noch den aktuellen Hygieneanforderungen entspricht.
Sinnvoll ist das angesichts der begrenzten Zeit der Ärzte nicht. Ein Lösungsansatz ist das Berufsbild der Praxismanagerin: Das ist eine für den medizinischen Bereich kaufmännisch ausgebildete Fachkraft, die dem Arzt die Verwaltung abnimmt, Personalverträge macht, Ärger mit den Kassen abfängt. Barbara Kronfeldner vom Verband medizinischer Fachberufe und selbst Praxismanagerin, glaubt, dass gerade junge Ärztinnen und Ärzte davon profitieren: „Wer sich neu niederlässt, steht vor einem Berg von Aufgaben. Wenn man dann jemanden mit Erfahrung an der Seite hat, ist das ein großer Vorteil.“ Die Herausforderung: Die Lohnkosten müssen von der Praxis refinanziert werden.
Eine weitere Idee ist es, die Versorgung breiter aufzustellen. Um Patientinnen und Patienten gut zu behandeln, sind nicht für alle Aufgaben Ärztinnen und Ärzte notwendig. Ein Ansatz sind etwa die in Amerika verbreiteten „Physician Assistents“. Sie sind zwar keine Ärzte, übernehmen aber im ärztlichen Team bestimmte medizinische Aufgaben. In die gleiche Richtung geht die Wiederbelebung des Berufsbildes einer „Community Nurse“, früher sprach man von Gemeindeschwestern. Sie können eine medizinische Grundversorgung an der Basis übernehmen können: Betreuung von chronisch Kranken, Verbandswechsel, Spritzen setzen, Blutabnahme, leichte Physiotherapie, Blutdruck messen. Die Robert Bosch Stiftung versucht seit 2017 dieses Berufsbild zu etablieren. Damit ließe sich, so die Hoffnung der Experten, nebenbei auch der Pflegeberuf aufpeppen.
2. Die innere Preisuhr steht still: Warum Ärzte bisher falsch bezahlt werden
Eines der wichtigsten Reformvorhaben von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ist die Aufhebung der Honorarobergrenzen für Hausärzte. Die Budgets wurden mal eingeführt, um die stark steigenden Ausgaben im Gesundheitssystem in den Griff zu bekommen. Sie haben für die Ärztinnen und Ärzte allerdings eine finanziell unangenehme Folge: Wenn der Kostendeckel überschritten ist, weil etwa während der Grippewelle viele Patienten kommen, werden Ärztinnen und Ärzte für zusätzlichen Fälle kaum noch oder nicht mehr vergütet.
Aus Ärztesicht ist also derzeit ein „guter Patient“ derjenige, der ein Mal im Quartal auftaucht und wenn‘s geht, nicht wirklich krank ist. Dann kann der Mediziner, die (gedeckelte) Pauschale für diesen Patienten ohne größere Aufwendungen berechnen.
Dieses fehlerhafte Anreizsystem hat weitere Folgen: Weil es für Ärzte lukrativ ist, Patienten jedes Quartal genau einmal zu sehen, machen viele Experten die Budgets für die extrem hohe Zahl von Arztbesuchen in Deutschland mitverantwortlich. Das wiederum hat volle Wartezimmer und volle Terminkalender beim Arzt zur Folge: Im Durchschnitt nehmen sich Ärzte mittlerweile nur noch 7,6 Minuten Zeit für ein Patienten-Gespräch – es läuft, kurz gesagt, wie am Fließband.
Dieser Effekt soll durch die Aufhebung der Pauschale gestoppt werden. Damit soll wieder die Behandlung in den Mittelpunkt der Entlohnung rücken. Der Arzt könnte sich pro Fall mehr Zeit nehmen. Ob das klappt und die Wartezimmer nicht doch voll bleiben und nur die Kosten wieder explodieren, das ist noch nicht gesichert. Minister Lauterbach erklärt, dass er mit einem dreistelligen Millionenbetrag an Mehrkosten rechne.
3. Chefsessel ade: Versorgungs- und Gesundheitszentren sind für junge Ärzte oft attraktiver
Junge Ärztinnen und Ärzte scheuen das finanzielle Risiko einer Einzelpraxis und die berufliche Belastung, die sich aus der Selbstständigkeit ergibt. Ein niedergelassener Arzt ist auch Unternehmer und diese Rolle wird zunehmend unbeliebt – jedenfalls ist die Zahl der Praxen in den vergangenen zehn Jahren um rund 20 Prozent zurückgegangen. Gleichzeitig hat sich die Zahl der „Medizinischen Versorgungszentren“ (MVZ) in diesem Zeitraum auf deutschlandweit mehr als 4000 verdoppelt.
In Medizinische Versorgungszentren können mehrere angestellte Ärzte zusammenarbeiten. Für die Patienten macht es auf den ersten Blick keinen Unterschied, aber im Hintergrund läuft die Abrechnung mit der Krankenkasse nicht mehr über den Arzt, sondern über das MVZ. Das hat für die Ärzte Vorteile: Sie sind keine Unternehmer mehr, sondern Angestellte. Das vereinfacht auch etwa die Arbeit in Teilzeit. Kritiker fürchten allerdings, dass durch diese Organisationsform Finanz-Investoren die medizinische Versorgung unterwandern und mit Praxen Geld verdienen wollen.
Solche Versorgungszentren gibt es bisher vor allem in der Radiologie. Unter Hausarztpraxen ist ihr Anteil mit rund drei Prozent derzeit noch gering. Das könnte sich aber ändern. Dr. Klaus Weckbecker, Professor für Allgemeinmedizin an der Uni Witten-Herdecke, geht davon aus, dass der niedergelassene Hausarzt letztlich zwar kein Auslaufmodel sein wird – aber nicht mehr die führende Organisationsform der medizinischen Versorgung. In vier NRW-Städten sind bereits kommunale MVZs gegründet worden, um dem Hausärztemangel zu begegnen.
Die Robert Bosch Stiftung hat das Modell zu sogenannten patientenorientierten Zentren weitergedacht, in denen verschiedene medizinische und nicht medizinische Berufe zusammen an einem Patienten arbeiten. Solche Zentren gibt es bereits in zwölf Kommunen, in denen auch Sozialarbeiter oder Therapeuten mitarbeiten. Die Robert-Bosch-Stiftung fördert die Zentren mit rund zwei Millionen Euro.
4. 130 junge für 100 alte Ärzte: Wie Zuwanderung und Unis helfen
Obwohl die Anzahl an Hausärzten in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren sogar leicht zugenommen hat, sinkt die geleistete Arbeitszeit. Das hat zwei Gründe: Inzwischen sind etwa in Nordrhein ein Viertel der Hausärzte angestellt. Sie arbeiten also bis zu 40 Wochenstunden und nicht die derzeit durchschnittlichen 52 Stunden, die ein Hausarzt mit eigener Praxis ableistet. Zudem steigt die Zahl der Teilzeitkräfte, auch weil immer mehr Frauen in den Beruf kommen.
Fachleute prognostizierten schon vor Jahren: Für 100 Hausärzte, die aktuell in Rente gehen, brauche man 130 junge Nachwuchskräfte. Eine Lösung: Derzeit studieren etliche junge Menschen, die Ärztin oder Arzt werden möchten, im Ausland, weil sie hier keine Möglichkeit erhalten. Das wäre zu beheben, indem schlicht die Zahl der Studienplätze deutlich erhöht wird. Das geschieht derzeit an den Universitäten, auch hat NRW in Bielefeld eine neue medizinische Fakultät erhalten. Zudem dürfte der Numerus Clausus mittelfristig obsolet werden.
Selbst das könnte den Ärztebedarf aber nicht ausreichend decken. Die Ärztekammer Westfalen-Lippe hat deshalb schon ein Programm ins Leben gerufen, um zugewanderte Mediziner für eine eigene Praxis zu gewinnen.
5. Dr. Algorithmus, übernehmen Sie: Wie Digitalisierung Arbeitszeit spart
Wenn Hausärzte das Wort Digitalisierung hören, werden sie oft erst einmal skeptisch. Das hat mit den Erfahrungen zu tun. Die Systeme sind oft komplex und damit sehr fehleranfällig. Als beispielsweise 2022 die elektronische Krankschreibung eAU eingeführt wurde, mussten neun einzelne Technik- und Programmteile fehlerfrei miteinander arbeiten – der Frust war sozusagen programmiert. Und er blieb in vielen Fällen bei den Praxen hängen.
Mittelfristig führt allerdings kein Weg an der Digitalisierung vorbei. „Eine digitale Praxis spart 30 Prozent Arbeitszeit“, sagt Gesundheitsökonom David Matusiewicz, einer der führenden Digitalexperten für das Gesundheitswesen. „Das sind 30 Prozent mehr Hausarzt für den Patienten.“
Die Digitalisierung könnte die Versorgung von Patienten deutlich verbessern. Wenn Informationen über den Patienten – also Untersuchungsberichte, Laborwerte, Aufnahmen, Screenings – nicht digital übermittelt werden können, geht wertvolle Zeit verloren. Erkrankungen können doppelt und dreifach diagnostiziert werden, Werte oder Diagnosen einfacher verlorengehen. Die Krankenkasse Barmer sagt, schon ein digitales Therapiemanagement von chronisch erkrankten Menschen, die mehrere Medikamente einnehmen, könnte die Sterblichkeit um bis zu 20 Prozent senken.
Ein Problem: Technische Entwicklungen brauchen in Deutschland sehr lange. Die erste Version der elektronischen Gesundheitsakte wurde 2001 entwickelt, erst mehr als 20 Jahre später können Patienten sie auch nutzen. Die Telemedizin steckt ebenfalls noch in den Kinderschuhen – obwohl sie für die medizinische Versorgung der Zukunft eine enorme Rolle spielen wird.
Die Digitalisierung verändert und vereinfacht die Arbeit in den Praxen an vielen Stellen. Es beginnt, wenn Patienten ihre Termine online ausmachen könnten, was Stress und Zeit spart. In der Endstufe könne zur digitalen Praxis aber auch eine Künstliche Intelligenz gehören, die beim Patientengespräch mithört, Diagnosen notiert und verarbeitet, während sich der Arzt ausschließlich um die Behandlung kümmert, prophezeit David Matusiewicz.
Gibt es da nicht Datenschutzprobleme? „Heute steht man an der Annahme und die zehn Leute hinter einem hören die Laborwerte des Urintests gleich mit“, sagt Matusiewicz. „Die analoge Welt ist nicht unbedingt sicherer.“ Sprachbarriere seien zudem leicht zu überwinden. Investitionen von wenigen Zehntausend Euro seien für die vollständig digitalisierte Praxis nötig – das refinanziere sich durch Personalkosten, Zeitersparnis und einen höheren Praxisumsatz. Das Arbeiten würde attraktiver.
Digitalisierung kann aber auch den Fachkräftemangel abmildern. Im Sauerland wird derzeit ein digitaler hausärztlicher Versorgungsassistent erprobt. Er arbeitet wie eine mobile Außenstelle und übernimmt Untersuchungen, die nicht unbedingt einen Arzt erfordern. Ergebnisse werden digital in die Praxis geschickt - dafür gab es den „German Medical Award“ im Bereich Digitaler Medizin.
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