Witten. Corona und noch mal Corona: Zwei Drittel der Patienten haben Fragen zu diesem Thema. Forscher wollen wissen: Wie halten Arzthelferinnen das aus?

Sie sind zu fünft, aber sie haben mehr als zehn Arme, zehn Ohren, zehn Augen. Sie greifen übereinander, eine Hand am Drucker, die andere am Telefon, eine dritte an der Impfliste und die vierte in der Kartei, sie hören Frau Meier zu und reichen gleichzeitig Herrn Müller das Rezept… Und heute schreiben sie auch noch jeden einzelnen Anruf auf: Wer, warum, wie lange? Denn das wird am Mittwoch in deutschen Hausarztpraxen gemessen. Die Universität Witten/Herdecke will wissen, wie die Pandemie die Medizinischen Fachangestellten (MFA) belastet. Ahnen lässt sich das schon ohne Studie: sehr.

„Wir setzen Sie gern auf unsere Impfliste“, sagt Sabrina Schaal gerade in den Hörer, „natürlich, selbstverständlich, das kann ich nachvollziehen, aber es kann dauern, wir haben noch so viele Ältere, die Chefs ordnen nach Krankheit, wenn nicht mehr Impfstoff kommt…“ Kaum Zeit zum Luftholen, dies ist der 43. Anruf heute, nur an einem von zwei Telefonen dieser Praxis in Witten. Und dabei ist Mittwoch heute: ein ruhiger Tag. „Totales Multitasking“, sagt Hausarzt Hans Joachim Röhrens über seine Helferinnen. „Ich würde das nicht schaffen.“

Zwei Drittel der Anrufe drehen sich um Corona

Ein Kreuzchen für jeden Anruf: Die Liste wird immer länger.
Ein Kreuzchen für jeden Anruf: Die Liste wird immer länger. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Sie haben ja auch kaum Platz da vorne hinterm Tresen, zwei sitzen, zwei stehen, eine läuft mit Nierenschalen voller Spritzen hin und her, ihre Jacken haben sie nach und nach hinter der Kollegin über die Stuhllehne gestopft. Kornelia Mangel pustet erschöpft ihren Pony aus der Stirn: „Ohne dieses tolle Team könnte ich das nicht.“ Man muss sich das so vorstellen: meistens Dauerlauf, allein 300 ausgedruckte Rezepte und Bescheinigungen an einem Vormittag, 87 Telefonate, 98 Impfungen, 700 Patienten mit Handynummern auf der Warteliste, und die Damen lachen noch.

Zack, steht wieder ein Kreuzchen auf der blauen „Ankreuzliste zur Erfassung von eingehenden Telefonaten“, sie sieht ein bisschen aus wie ein riesiges Sudoku, aber mit zehn mal zehn Feldern. Die „Belastung durch telefonische Patientenanfragen“ wird in Bogen 3 (grün) extra abgefragt, bei „Seit Beginn der Covid-19-Pandemie erhalten wir mehr Telefonanrufe als zuvor“ markieren sie alle die Option „Stimme voll und ganz zu“. Ein Drittel, sagt Kira Katz, sei „normal“, zwei Drittel der Patienten riefen an mit Fragen rund um Corona. Christina Gröger findet es gut, dass sie das nun dokumentieren: „Interessant, jetzt wissen wir das selber mal.“

Studienergebnisse kommen schon im Sommer

Und die Wissenschaft erfährt es auch. Die forschte bislang nicht viel auf der Ebene der Hausärzte, nun aber will sie es genau wissen: Was bedeutet die Coronavirus-Pandemie konkret für den Alltag in der deutschen Hausarztpraxis?, fragt deshalb Prof. Dr. Achim Mortsiefer, an der Uni Witten/Herdecke Professor für Primärärztliche Versorgung. Und weil es pressiert, erhebt er Daten mit einer in der Wissenschaft ziemlich neuen Methode: dem Flashmob. „Wir wollen etwas Frischeres ausprobieren“, etwas, das schneller geht als eine jahrelange Feldforschung, die „in verstaubten Magazinen endet, und niemand redet mehr darüber“. In an die 100 Praxen deutschlandweit führen die MFAs an diesem Mittwochmorgen mitten im Sprechstunden-Trubel Buch, Ergebnisse soll es schon im Sommer geben.

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Mortsiefer ist selbst Arzt mit eigener Praxis in Köln, er weiß, dass die Arzthelferinnen „stark belastet“ sind, „und jetzt ist es extrem“. Jetzt ist seit Beginn der Pandemie, seit die Menschen anrufen mit ihren Fragen zu Tests, Symptomen, Quarantäne-Regeln und längst auch zur Impfung: Zigfach, sagt Mortsiefer, versuchten die Patienten seine Mitarbeiterinnen und auch ihn selbst „zu überzeugen, dass sie dran sind“. Niemand wolle sie enttäuschen, es oft doch tun zu müssen, sei „anstrengend“.

Impf-Warteliste mit 700 Namen auf kariertem Papier

Tempo, Tempo: In der Arztpraxis von Hans Joachim Röhrens in Witten sind die Helferinnen unterwegs im Dauerlauf.
Tempo, Tempo: In der Arztpraxis von Hans Joachim Röhrens in Witten sind die Helferinnen unterwegs im Dauerlauf. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Das Team von Hans Joachim Röhrens erinnert sich an Zeiten, da sie keine anderen Krankheiten mehr hatten in der Praxis und „jeder Pickel Corona war“: Die Patienten wollten Tests in allen Lebenslagen, die Fünf arbeiteten im Schichtdienst, „falls sich jemand ansteckt, sonst wären wir alle verbrannt gewesen“. Inzwischen führen sie diese Impf-Warteliste auf kariertem Papier, dazu die rosa Reserveliste, die sie gerade abtelefonieren. „Ich bin schon froh“, sagt Kira Katz, 33, „wenn einer mal nur ein normales Rezept will.“

Dabei ist das Priorisieren Alltag für jede Arzthelferin: Sie entscheidet, ob die Kopfschmerzen so schlimm sind, dass die Patientin sofort kommen muss, oder der Kreislauf auch erst übermorgen behandelt werden kann. Nur ist durch Corona alles mehr geworden: Die Praxen testen, bieten Infektionssprechstunden, impfen inzwischen – und von den Kassenärztlichen Vereinigungen kommen neue Anforderungen zuweilen zweimal täglich. Am Abend, sagt Prof. Mortsiefer, sind die Angestellten „fertig“. Klagen aber reiche nicht, er will die Berufsgruppe gern fördern, „eine Aufwertung ist erforderlich“.

Drei Wochen nach dem Impfstart in den Praxen rufen Patienten erneut an

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Das Interesse war gleich nach dem Aufruf „riesig“, allerdings luden nicht alle interessierten Praxen die Erhebungsbögen auch herunter: Viele sagten dem Forscherteam: „Tolle Idee, aber wir können nicht noch mehr.“ Nicht die viele Arbeit auch noch dokumentieren und auf vier Zetteln eintragen. Professor Mortsiefer hat Verständnis, bedauert aber auch: „Ausgerechnet die am meisten stöhnen, schaffen das eben nicht auch noch.“

Bei Hausarzt Röhrens in Witten hatten sie gedacht, die Sache mit dem Impfen hätten sie inzwischen im Griff: Die „Wann-geht-es-endlich-los“-Anrufe hielten sie für abgehakt, die Warteliste steht. Drei Wochen nach dem Impfstart in den Praxen aber klingeln die Patienten schon wieder an: „Haben Sie mich auch nicht vergessen?“ Gerade dieses Telefon, sagt der Chef hinten im ruhigen Behandlungszimmer, „macht viel, viel Arbeit.“

>>INFO: DAS IST EIN FLASHMOB

Ein Flashmob ist eine kurze, überraschende öffentliche Aktion einer größeren Menschenmenge, die sich anonym, über Handy oder soziale Netzwerke dazu verabredet hat. Das Wort kommt vom englischen Wort „flash“ wie „Blitz“ und vom lateinischen Ausdruck mobile vulgus, etwa „reizbare Volksmenge“.

Flashmobs sind etwa von Künstlern bekannt, die spontan irgendwo auftreten, sich etwa in Kaufhäusern aus allen Ecken zusammenfinden. Inzwischen gibt es aber auch Formen politischer Demonstrationen. Als wissenschaftliche Methode ist der Flashmob noch eher unbekannt. Die Forscher in Witten wollen sich das Spontane, Schnelle eines Flashmobs zunutze machen.

Die Flashmob-Studie aus Witten wird in Kooperation mit den allgemeinmedizinischen Universitätsstandorten Bochum, Düsseldorf und Essen durchgeführt. Die Ergebnisse sollen im Sommer 2021 veröffentlicht werden.