Ruhrgebiet. In NRW gehen viele Hausärzte in Rente. Nachfolger finden sich immer schwieriger. Das hat auch mit der nächsten Ärztegeneration zu tun.

Den Hausarzt erwischt man an seinem freien Tag in der Praxis. Verwaltungsarbeit liegt auf dem Schreibtisch. Oft fahre er deshalb auch sonntags in die Praxis, sagt der Arzt einer Gemeinschaftspraxis, weil im Alltag zu viel liegen bleibe. „Ich arbeite 50 bis 60 Wochenstunden“, sagt der 64-Jährige, „ich kann schon verstehen, dass junge Menschen das so nicht mehr wollen.“

Und trotzdem hätte er nicht gedacht, dass es so schwer werden würde, seine gut laufende Praxis im Ruhrgebiet zu verkaufen. Seit einem Jahr versuche er die Praxis mit rund 2000 Kassenpatientinnen und Patienten abzugeben – wie der Hausarzt heißt, soll deshalb nicht geschrieben werden. Drei Interessierte habe er bislang gehabt, sagt der 64-Jährige, der von „irren Geschäftsmodellen“ berichtet. „Einer wollte hier eine Videosprechstunden-Praxis einrichten. Ich mache seit 30 Jahren Hausarztmedizin mit Herz und Seele. Da mache ich hier eher dicht“, sagt er frustriert. Auch drei Medizinerinnen hätten sich die Praxis angeschaut. Sie schrecke bislang die Bürokratie ab.

40 Prozent der Hausärztinnen und Hausärzte in Westfalen sind über 60

Selten war es für einen Hausarzt so schwer, einen Nachfolger zu finden. Offizielle Zahlen sind schwer zu ermitteln – doch in einer Umfrage der Deutschen Apotheker- und Ärztebank unter Heilberuflerinnen und Heilberuflern mit Abgabewunsch gaben zehn Prozent an, dass sie noch ohne Nachfolge seien. Das Dunkelfeld dürfte deutlich größer sein – wer seine Praxis abgeben will, spricht darüber nicht offen, um Patienten und Beschäftigte nicht zu verunsichern.

Das große Angebot hat eine Reihe von Gründen, die im Zusammentreffen für die ambulante Versorgung zum Problem werden. Einerseits steigt die Zahl der älteren Medizinerinnen und Mediziner: In Westfalen sind nach Angaben der dortigen Kassenärztlichen Vereinigung (KV) über 40 Prozent der Hausärztinnen und Hausärzte über 60 Jahre alt. In Nordrhein ist jeder Vierte älter als 63 Jahre. Auch wenn es keine Altersgrenze für Vertragsärzte mehr gibt, werden erwartbar viele Praxen frei - Beobachtern zufolge auch, weil nach den Belastungen der Pandemie viele ältere Mediziner hinwerfen wollen.

In NRW sind über 650 Sitze für Hausärztinnen und Hausärzte unbesetzt

Dem gebenüber steht eine neue Ärztegeneration mit höherem Frauenanteil, die eher nach einem Angestelltenverhältnis und nach Teilzeitstellen Ausschau hält. Wer sich dennoch selbstständig machen möchte, braucht nichts Altes zu übernehmen. Er kann fast problemlos eine brandneue Praxis öffnen: Nur wenige Städte und Bezirke in NRW sind dafür aktuell gesperrt – in Nordrhein sind es gerade einmal 22 von 94 Stellen.

In allen anderen braucht es mehr Hausärzte: Über 428 Hausarztsitze sind in Nordrhein aktuell nicht besetzt. In Westfalen-Lippe fehlen 241 Vollzeitkräfte, um überall die volle Versorgung zu garantieren. Längst nicht mehr nur auf dem Land ist es für Zugezogene schwierig, einen Hausarzt zu finden, der noch Patienten aufnimmt.

Zeitraubende Sisyphus-Arbeit: Hausärzte dokumentieren jeden Behandlungsschritt

Was viele junge Menschen abschreckt, sei die Verwaltungsarbeit, sagen Praktiker. Die Bürokratie im ambulanten Sektor wird als überbordend beschrieben. Jeder Behandlungsschritt müsse mit einer Diagnose rechtfertigt werden. Sollen bei einer Blutentnahme zehn Werte genommen werden, müsse zu jedem Wert die Diagnose aufgeschrieben werden. Eine reguläre Hausarztpraxis komme so schnell auf bis zu 50.000 zu dokumentierende Diagnosen im Quartal – eine zeitraubende Sisyphus-Arbeit. Hinzukommen die Tücken der Digitalisierung, die kaum Bürokratie abbaue. „Das sind kleine Details, die am Ende dafür sorgen, dass wir für unsere eigene Arbeit immer weniger Zeit haben“, sagt ein niedergelassener Mediziner aus dem Ruhrgebiet.

Die kassenärztlichen Vereinigungen verweisen zwar auf eine Vielzahl von Landesprogrammen, um mehr Fachleute für eine Niederlassung zu gewinnen – von Praxisstart-Hilfen, Fördergeldern und Möglichkeiten zum Quereinstieg von Fachärzten.

Dr. Dirk Spelmeyer, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe, kritisiert: „Die Praxen der Niedergelassenen ersticken in Bürokratie.“
Dr. Dirk Spelmeyer, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe, kritisiert: „Die Praxen der Niedergelassenen ersticken in Bürokratie.“ © KVWL | KVWL

Die KV Westfalen-Lippe lässt aber durchblicken: Helfen würde vor allem, wenn die Rahmenbedingungen geändert werden. „Die Praxen der Niedergelassenen ersticken in Bürokratie, werden finanziell unzureichend ausgestattet und mit nicht ausgereiften Digitalisierungspflichten gelähmt“, sagte der Vorstandsvorsitzende Dirk Spelmeyer. Das habe gravierende Folgen, so die KV: „Leistungskürzungen und Praxisschließungen werden wir in naher Zukunft verstärkt erleben.“

An diesem Dienstag kommen Vertreterinnen und Vertreter der niedergelassenen Ärzteschaft mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zusammen, um über mehr Geld und weniger Bürokratie zu sprechen.

Praxisvermittler: Anfragen von Hausärzten haben sich verdreifacht

Frank Albert Thiem sieht nicht ganz so schwarz. Er betreut seit zehn Jahren Fach- und Hausarztpraxen für die Praxisberatung „Medass“ aus Essen. Auch er spürt, dass der Druck steigt: „Bei uns haben sich die Anfragen zu Praxisabgaben schon kurz vor der Pandemie etwa verdreifacht“, sagt Thiem.

Hausärzte würden oft viel zu spät nach einer Nachfolge suchen, nennt Thiem ein gängiges Problem. Bis zu drei Jahre müsse man Zeit haben. „Dann gelingt das auch“ – wenn auch nicht mehr zu den lange marktüblichen Preisen. Online gibt es Verkaufsangebote von 120.000 Euro für eine Einzelpraxis. Für Interessenten sei die Praxisübernahme dadurch heute so teuer wie eine Neugründung– man verfüge aber schon über Personal und Patientenstamm. „Das ist ein großes Plus“, ist sich Thiem sicher. „Ich erlebe in den vergangenen zwei, drei Jahren sogar eine Renaissance der Niederlassung.“

Ich erlebe in den vergangenen zwei, drei Jahren sogar eine Renaissance der Niederlassung.
Frank Albert Thiem - Praxisvermittler und -makler bei „Medass“ in Essen

Dass es durchaus klappen kann, davon berichtet ein Mediziner aus einer Stadt vom Rande des Ruhrgebiets. Der Verkauf seiner Praxis sei noch nicht offiziell, seinen Namen will der Arzt deshalb ebenfalls nicht öffentlich lesen. Aber er erzählt, dass er drei Jahre lang in seinem durchaus großen Netzwerk und mit verschiedenen Anzeigen nach einer Nachfolge gesucht habe. Er habe mit zehn Interessierten gesprochen, alle seien abgesprungen, oft ohne einen Grund zu nennen.

„Wenn sich heute jemand niederlassen will, hat er einen gigantischen Markt“, sagt der Allgemeinmediziner. Er habe aber auch den Eindruck, dass die nächste Hausarztgeneration das Risiko einer Selbstständigkeit scheue. „Dabei gibt es das Risiko gar nicht.“ Gelungen sei die Übernahme dank eines Praxisvermittlers – und wohl auch, weil die Praxis rund 80 Prozent ihres Umsatzes durch Privatpatienten bestreitet. Der Mediziner will seinem Nachfolger vorerst erhalten bleiben – als eine Art Telefonjoker bei Nachfragen.