Essen. Ärztekammerpräsident Hans-Albert Gehle sagt, wie er Druck auf Ungeimpfte erhöhen würde und warum es jetzt mehr Medizinstudienplätze braucht.
Mit Hans-Albert Gehle, Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, kommt man schnell ins Plaudern. Beim Thema Impfen wird der 60-Jährige dann aber sehr ernst. Im Gespräch mit WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock und Reporterin Stephanie Weltmann erzählt der Bochumer, wie mehr Druck auf Ungeimpfte ausgeübt werden kann, welche Bevölkerungsgruppe bislang beim Impfen kaum erreicht worden ist und der Corona-Stress einem Berufswunsch in der Medizin kaum geschadet haben dürfte.
Dr. Gehle, Sie sind selbst Intensivmediziner, Sie haben die Folgen einer Covid-19-Erkrankung in den Kliniken erlebt. Wenn Sie zur Gartenparty einladen, lassen Sie auch ungeimpfte Besucher zu?
Wenn ich eine veranstalten würde, was ich derzeit nicht tue, würde ich Ungeimpfte bitten nicht zu kommen. Ich will meine Angehörigen schützen. Und mal abgesehen von bestimmten Erkrankungen gibt es keinen Grund sich nicht impfen zu lassen.
Kann so eine Haltung die Gesellschaft spalten?
Corona ist etwas, wo es ans Eingemachte geht, klar. Aber was führt jemanden dazu, sich nicht impfen zu lassen? Die Aussage kann nur sein, dass die Impfung mehr schaden könnte als der Virusinfekt. Und das stimmt nicht.
In NRW gilt inzwischen die 3G-Regel. Ungeimpfte müssten fürs Testen bald zahlen. Macht Politik ausreichend Druck auf sie?
Ohne den Wahlkampf wäre er sicher höher. Allein die Erwartung der Wirtschaft, dass sie wieder normal funktionieren kann, wäre viel lauter zu hören sein. Die Bevölkerung braucht einen moderaten Druck. Das haben wir bei den Über-60-Jährigen gesehen, bei denen wir klar sagen konnten, dass sie im Falle einer Infektion gefährdeter für einen schweren Krankheitsverlauf sind als andere und entsprechend hoch ist die Impfbereitschaft. Der Druck darf natürlich nicht so weit gehen, dass man nicht mehr am Leben teilnehmen kann. Aber gerade im Freizeitbereich kann man Anreize schaffen.
Die Inzidenz in NRW steigt rasant und liegt inzwischen fast doppelt so hoch wie der Bundesdurchschnitt. Brauchen wir auch wieder strengere Regel?
Zunächst dürfen wir nicht nur auf die Inzidenzen, sondern müssen auch auf die Klinikauslastungen und Zahlen der Schwererkrankten schauen. Appelle an die Vernunft der Leute allein scheinen jedenfalls nicht auszureichen. Vor allem das Crowding, also enges Menschengedränge, muss verhindert werden. Das sieht man leider allzu oft wieder in Fußballstadien oder auch bei Konzerten. Da muss es ein Signal von der Politik geben.
Welches konkret?
Zuschauer sollten bei Fußballspielen wieder untersagt werden, bis die Zahlen in den Krankenhäusern und Inzidenzen sinken. Und statt der 3G-Regel sollte die Politik in der jetzigen Situation konsequent auf eine 2G-Regel setzen und Freizeitangebote nur noch Genesenen und Geimpften ermöglichen. Es ginge auch ohne Zwang, wenn sich alle an die geltenden Corona-Regeln halten würden. Auf keinen Fall dürfen am Ende wieder die Schulen schließen. Die Pandemiebekämpfung darf nicht wieder zu Lasten der Kinder gehen.
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Wo muss die Impfkampagne verstärkt werden?
Zugewanderte aus den Maghreb-Staaten (Anm. d. Red.: Tunesien, Algerien, Marokko und Westsahara) haben eine größere Gefahr, auch in jüngeren Jahren schwer an Covid zu erkranken. Diese Gruppe erreichen wir aber kaum und auch unter türkischen Zuwanderern müssen wir mehr werben. Diese Menschen haben oft keinen Hausarzt, das erschwert den Zugang. An die Jugendlichen aus diesen Familien kommen wir nochmals schwieriger.
Sie haben früh für die Impfungen von Jugendlichen geworben und sind dafür auch kritisiert worden. Die Stiko hat ihre Empfehlung nun geändert.
Natürlich muss die Stiko mit ihren Empfehlungen auch vorsichtig sein, aber ich hätte mir eine schnellere Beweglichkeit bei der Stiko gewünscht. Die eingeschränkte Impfempfehlung für Zwölf- bis 17-Jährige hat ja auch geführt, dass sich 18- bis 30-Jährigen nicht mehr impfen lassen wollten. Bei den Jugendlichen geht es nicht nur darum, Herdenimmunität in der Bevölkerung zu erreichen. Es geht um ein sicheres Schulleben und die Wahrnehmung des normalen Lebens.
Ende September sollen die Impfzentren in NRW schließen, auch die Auffrischungsimpfungen sollen die niedergelassenen Ärzte allein stemmen. Wird das eng?
Wenn jetzt nicht auf einen Schlag alle Ungeimpften in die Praxen strömen, schaffen wir das auch ohne Impfzentren. Wir brauchen aber weiterhin dezentrale Angebote wie Impfbusse oder mobile Teams und wir müssen die Impfhürden niedrig halten. Wer keinen Hausarzt hat, sollte auch weiter eine zentrale Termin-Hotline anrufen können. Die gesamte zentrale Struktur wegbrechen zu lassen, wäre auch mit Blick auf mögliche neue Virusvarianten falsch.
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Wie motiviert sind Hausärzte nach dem Frust der letzten Monate denn noch?
Der Frust war groß, weil die Planbarkeit fehlte und weil sie lange Impflisten gemacht haben und dann Leute nicht mehr zur Impfung gekommen sind. Jetzt ärgert uns, dass Impfstoff verfällt und Ärzte ihn wegwerfen müssen. Das ist eine Sauerei, da müssen Land und Bund Lösungen finden. Aber deshalb sind die Ärzte nicht weniger bei der Sache. Wir hatten von Anfang an sehr viele Anfragen von Kollegen, die impfen wollten und in den Impfzentren arbeiten wollten.
Vertreter von fast 50.000 Ärzten und Ärztinnen
Johannes „Hans“-Albert Gehle, 60 Jahre alt, ist seit Ende 2019 Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe. Der gebürtige Ostwestfale ist mit dem Medizinstudium nach Bochum und ins Ruhrgebiet gekommen und hier geblieben. Er ist Facharzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin und Leitender Arzt an der Bergmannsheil und Kinderklinik Buer in Gelsenkirchen. Er ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder. Der VfL-Bochum-Fan sitzt seit 2015 der Ärztegewerkschaft Marburger Bund NRW/Rheinland Pfalz vor.
Die Ärztekammer Westfalen-Lippe ist nach eigenen Angaben die viertgrößte in Deutschland. Sie ist die berufliche Vertretung von rund 47.700 Ärztinnen und Ärzten in der Region. Gehle gehörte zu den frühen Befürwortern einer Corona-Schutzimpfung von Jugendlichen.
Das Honorar ist auch üppig.
Die Honorare sollten den Fall ausgleichen, dass jemand seine Praxis fürs Impfen schließen muss und seine MFA mit ins Impfzentrum bringt. Es wird auch Kollegen gegeben haben, die das genutzt haben, auch Krankenhausärzte, die lieber einen Dienst im Impfzentrum gemacht haben. Aber das ist nicht die Mehrheit. Schon vorher haben sich bei uns Freiwillige gemeldet, die impfen wollten.
In der Pandemie waren Ärzte so gefordert wie lange nicht. Ist Ihr Beruf durch die Corona-Zeit unattraktiver geworden?
Der Wunsch, Medizin studieren zu wollen, ist ungebrochen hoch. Wir haben auf knapp 10.000 Studienplätze knapp 40.000 Bewerber. Ich erwarte aber, dass bestimmte Sparten mehr Zulauf bekommen. Die Infektiologie und Hygiene etwa und wenn die Arbeitsbedingungen anders wären, sicher auch der Öffentliche Gesundheitsdienst.
Und die Hausärzte? Jeder dritte ist über 60 Jahre alt, der Mangel drückt da doch besonders.
In Westfalen-Lippe ist die Zahl der Abschlüsse etwas gestiegen, aber das reicht nicht. Den Mangel werden wir ohne zugewanderte Ärzte nicht decken können. Im Moment hat jeder zweite neu anfangende Assistenzarzt seinen Studienabschluss im Ausland gemacht. Diese Ärzte gehen nach der Ausbildung aber eher in die Kliniken und nicht in die Niederlassung. Wir informieren, werben, sprechen an und wollen gerade jungen Menschen auch zeigen, dass es viele moderne Hausarztpraxen gibt.
In NRW gibt es die Landarztquote. Braucht es eine Hausarztquote für Studienanfänger?
Die Landarztquote ist genau das, weil der Mangel auf dem Land nochmals größer ist. Am Ende brauchen wir aber mehr Studienplätze. Im Vergleich zu den 90er-Jahren haben wir 1000 Studienplätze zu wenig. Das liegt auch daran, dass Nachwuchskräfte heute nicht mehr bereit sind, die gleiche Arbeitsbelastung zu tragen zu früher. Wenn heute 100 Ärzte in Rente geben, brauchen wir 130 neue.
Sie sind selbst Intensivmediziner. Was hat Sie in dieser Pandemie besonders betroffen gemacht?
Wenn man ehrlich ist: dass man teilweise chancenlos danebengestanden hat. Wir haben Leute behandelt, bei denen dachten wir, das Schlimmste sei überstanden, die können wir morgen verlegen. Und dann wird der Zustand rapide schlechter und diese Menschen sterben dir innerhalb von zwei Tagen unter den Händen weg. Das macht einem auch als Mediziner Angst. Und die Umstände beschäftigen mich. Wir haben die Menschen am Anfang ja völlig isoliert, Menschen sind gestorben, ohne dass sie von Angehörigen begleiten worden sind.
Gesundheitsminister Laumann sagte, dass Menschen allein sterben mussten, habe zu den größten politischen Fehler gehört.
Auch medizinischen. Das würde ich nie wieder so machen. Angehörige suchen noch heute das Gespräch mit uns, weil sie nicht damit fertig sind. Aber man muss auch wissen, dass wir uns am Anfang höhere Schutzmaßnahmen selbst gebaut haben. Für die Angehörigen hatten wir das nicht.
Wie gut wurde die Belastung in den Kliniken aufgefangen?
Das kommt immer sehr aufs Team an. Am Anfang hat uns Corona sehr zusammengeschweißt, aber über die Dauer war das oft sehr schwierig. Wir müssen als Kammer auch mehr tun, um Hilfsangebote zu schaffen und gerade junge Ärzte auffangen. Wir müssen gucken, dass wir diese Kollegen nicht verlieren. Die Gefahr sehe ich.
Was erwarten Sie, wie gefährlich wird es im Herbst und Winter noch mal für uns?
Wir sind sicher bereits in der vierten Welle. Die Hoffnung ist aber berechtigt, dass wir weniger Schwererkrankte haben werden, weil viele Risikopatienten und Über-60-Jährige geimpft sind.