Ratingen. Gerufen und gekommen um zu helfen – doch dann flog ihnen brennendes Benzin entgegen. Wie das ganze Land nun den Rettern von Ratingen hilft.

Bei der Feuerwehr in Ratingen haben sie den Trost auf einem Tisch gestapelt. Dankesbriefe, Kinderbilder, Spendendosen. Ein gutes Vierteljahr nach der verheerenden Explosion in einem Hochhaus, bei der neun Sanitäter, Polizistinnen, Feuerwehrmänner zum Teil schwerst verletzt wurden, sind mehr als 700.000 Euro zusammengekommen, um den Opfern zu helfen. „Das Geld heilt keine Wunden“, sagt Feuerwehrchef René Schubert, der am 11. Mai als Erster am Tatort war. „Aber wir dürfen erleben, dass die Gesellschaft zu den Einsatzkräften steht. Das tut allen gut.“

Es war ein Brandanschlag auf ihre „Blaulichtfamilie“, so sehen sie das. Eine Polizistin und ein Polizist, ein Notfallsanitäter mit seiner Kollegin, ein Notarzt, mehrere Feuerwehrmänner, gemeinsam standen sie an jenem Donnerstagmorgen im zehnten Stock: Hinter der verschlossenen Tür vermuteten sie eine „hilflose Person“, womöglich Tote. Gerufen und gekommen um zu helfen – doch dann schleuderte ihnen ein Mann brennendes Benzin entgegen. Die Anklage gegen einen 57-Jährigen soll in Kürze fertig sein. Für die Feuerwehr aber ist auch Monate später noch „nicht wirklich greifbar, was passiert ist“, sagt ihr Chef. „Diese Dimension. Und die Niederträchtigkeit.“

Immer noch entsetzt über die „Niederträchtigkeit“ der Tat: Ratingens Feuerwehrchef René Schubert.
Immer noch entsetzt über die „Niederträchtigkeit“ der Tat: Ratingens Feuerwehrchef René Schubert. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Feuerwehrmann am Tatort: „Wir verlieren hier Leute“

Das ist ja die Frage, die sie sich stellen, seit sie wieder Zeit haben zu denken: Wie jemand ausgerechnet die Retter angreifen, wie man Helfer zu Opfern machen kann. An jenem Donnerstag im Mai haben sie abends zusammengesessen, erschöpft und voller Angst um die Kollegen, da dachten sie noch, „vier werden sterben“, mindestens. „Wir verlieren hier Leute.“ Fünf waren lebensgefährlich verletzt, mehr als ein Drittel ihrer Haut war verbrannt, die Atemwege von der Hitze beschädigt. Feuerwehrleute wissen sehr gut, was das bedeutet.

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Sie haben es alle geschafft. Sie leben. Aber ihr Kampf ist nicht vorbei. Die Polizistin ist erst kürzlich aus dem künstlichen Koma erwacht. Ein Notfallsanitäter versucht im Bochumer Bergmannsheil, seine schwersten Verletzungen zu bezwingen. Sie haben Operationen, Transplantationen, schlimmste Schmerzen überstanden. Zwei Feuerwehrleute sind gerade in der Wiedereingliederung, andere werden noch jahrelang Kompressionskleidung tragen müssen. René Schubert erzählt von dem Feuerwehrmann, dessen Gesicht, Beine und Hände zu 40 Prozent verbrannt sind und der trotzdem versprochen hat: „Ich komme wieder.“ Es wird noch wenigstens zwei Jahre dauern. Er wird auch nicht komplett der Alte sein, aber 95 Prozent, hat er gesagt, schafft er. Er will es schaffen.

Elf Einsatzkräfte sind schwer traumatisiert, bewältigen ihren Alltag nicht mehr

Aber es gibt auch die, deren seelische Verletzungen nicht heilen wollen. Die „körperlich Glück“ hatten, sagt Schubert, aber denen sich die Bilder eingebrannt haben. Die erstarren, wenn sie den Garten machen wollen, aber der Rasenmäher nach Benzin riecht. Die nichts mehr können, wenn ein Hubschrauber über das Haus fliegt. Elf Kollegen seien so schwer traumatisiert, dass sie nicht nur dienstunfähig sind: Sie bewältigen ihren Alltag nicht mehr.

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Ihnen allen versucht die Blaulichtfamilie zu helfen, da, wo es geht. Es ist ihnen ein Bedürfnis, man kennt sich gut in der Welt der Einsatzkräfte, in langen Diensten lebt man quasi zusammen. Fast alle, die hier beruflich Brände löschen, sind auch in der Freiwilligen Feuerwehr. Anfangs haben sie sich stündlich informiert, wie es den Kameraden geht, haben Besuchsdienste organisiert, wo das gewünscht war, sich an Krankenbetten abgewechselt. Sie haben Krankentransporte gefahren, auch aus anderen Städten, obwohl die Ratinger dort gar nicht zuständig sind. Es hat geholfen, helfen zu können. Auch den Kindern: Ihnen haben sie Therapieplätze organisiert, die sie dringend brauchten – viele haben ihre Väter wochenlang nicht sehen können, in ihren Familien, sagt Branddirektor Schubert, sei „alles durcheinandergeraten“ und nichts mehr wie zuvor.

Mit dem Spendengeld besuchen Angehörige die Verletzten in ganz Deutschland

Erschöpft, fassungslos, voller Sorge um die verletzten Kollegen: Einsatzkräfte am 11. Mai nach dem Zugriff in Ratingen.
Erschöpft, fassungslos, voller Sorge um die verletzten Kollegen: Einsatzkräfte am 11. Mai nach dem Zugriff in Ratingen. © dpa | Rolf Vennenbernd

Die Reaktionen kamen schnell damals. Am Morgen nach dem Attentat, erinnert sich Schubert noch immer verwundert, klingelte sein Telefon auf der Wache schon um halb sieben. Da kamen die ersten Anfragen: Wie können wir helfen? Seitdem gab es Auktionen, Motorrad-Sternfahrten, Sportwettkämpfe zugunsten der Opfer. Das Geld sammelten die Menschen in Feuerwehr-Helmen, steckten es in Umschläge, schickten die Spendendosen gleich mit. Polizeistiftung und Förderverein waren auf so viel Unterstützung gar nicht vorbereitet, sagt Schubert, der Feuerwehr-Verein musste seine Satzung ändern, gemeinsam gründeten beide eine Ethikkommission, die das Geld verteilt.

Und dann sind da diese Briefe von überall her. „Wir haben mitgefühlt“, schreiben Kollegen der Wache in Eitorf. „Wir stehen zusammen!“, ruft die gesamte Stadtverwaltung, „Gegen Gewalt!“ eine Künstlergemeinschaft mit ungezählten Unterschriften den Einsatzkräften zu. Kindergartenkinder malten Bilder: „Ich finde euch toll“, steht darauf, „Ihr schafft das“ oder „Ihr seid Helden“. Die kleine Paula malte ein sehr großes Feuerwehrauto. „Liebe Einsatzkräfte, wir sind traurig über das, was passiert ist, bitte werdet schnell wieder gesund! Wir brauchen euch!“

Feuerwehr Ratingen: „Wir haben versucht zu helfen – und dann passiert sowas“

An der Kirche St. Peter und Paul hat die Stadt Ratingen die Kerzen inzwischen einem Stück Strahlrohr zu Füßen gestellt, die flackernden Lichter bilden ein Herz. Gerade hat jemand eine frische Geranie gebracht. René Schubert kommt manchmal hierher, man kann an der Kirchenmauer die Solidarität fühlen. Es sei „wichtig zu erleben, dass die Gesellschaft sich solidarisiert. Wir bekommen Hilfe“, dabei sind sie sonst die, die helfen. „Wir haben es versucht – und dann passiert sowas.“

An der Stadtkirche St. Peter und Paul stellen die Menschen immer noch Kerzen auf. Das Foto „In Solidarität mit den verletzten Einsatzkräften vom 11. Mai 2023“ hat die Stadt inzwischen dauerhaft auf ein Strahlrohr der Feuerwehr gestellt.
An der Stadtkirche St. Peter und Paul stellen die Menschen immer noch Kerzen auf. Das Foto „In Solidarität mit den verletzten Einsatzkräften vom 11. Mai 2023“ hat die Stadt inzwischen dauerhaft auf ein Strahlrohr der Feuerwehr gestellt. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Mit schlechtem Gefühl in die nächsten Einsätze

Sie haben es hin- und hergewendet seither: Hätten sie etwas anders machen können, besser? Hätten sie gewarnt sein müssen? Sie haben es besprochen, wieder und wieder, die Bodycams ausgewertet, Experten befragt. Aber es bleibt die Erkenntnis: „Wir haben fach- und sachgerecht gearbeitet“, sagt Branddirektor Schubert. „Wir haben unser Bestes gegeben, wir konnten nichts tun.“ Zwar wüssten Feuerwehrleute, dass es gefährlich ist, einen Brand zu bekämpfen. Aber was ist mit all den anderen Einsätzen? Die feuerfeste Kleidung – sie hilft wenig bei einer Explosion. Eine kugelsichere Weste – sie würde nicht helfen gegen Feuer. „Wenn jemand uns schädigen möchte, findet er einen Weg.“

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Das erlebt zu haben, hat indes sehr wohl etwas verändert in Ratingen. Sie fahren nicht mehr nur zu zweit in Einsätze, die nach Routine klingen, wie damals an der Berliner Straße – wo die Polizei zuerst angerückt war. Bei Anrufen wie dem im Mai, als jemand einen überquellenden Briefkasten meldete und Leichengeruch, da haben sie jetzt „ein doofes Bauchgefühl“, wie Jan-Hendrik Neumann sagt, der Sprecher der Feuerwehr. Besonders wenn es dunkel wird, „man weiß nie...“ Neulich hatten sie einen Brandalarm in einem Hotelzimmer. Als der Gast bei Eintreffen nicht aufzufinden war, erzählt der Brandamtmann, sei bei den Einsatzkräften die Anspannung sofort fühlbar gewesen. „Die Sensibilität“, sagt sein Chef, „ist hoch.“

Aber: „Einsatzkräfte müssen immer vorn ran.“ Das wissen sie, es ist ihr Beruf. „Wenn wir immer davon ausgehen müssten, dass hinter einer Tür ein Sprengsatz auf uns wartet, dann könnten wir die Hilfe nicht mehr leisten.“

>>SPENDEN FÜR DIE OPFER

Spenden für die Opfer werden auch weiterhin entgegengenommen:
Verein zur Förderung des Feuerschutzes in Ratingen e.V.
Sparkasse Hilden, Ratingen, Velbert
IBAN: DE81 3345 0000 0042 1116 74
BIC: WELADED1VEL
Verwendungszweck: Verletzte Einsatzkräfte

Polizeistiftung David und Goliath
Sparkasse Mülheim an der Ruhr
IBAN: DE57 3625 0000 0300 1420 01
BIC: SPMHDE3EXXX
Verwendungszweck: Feuerwehr Ratingen