Ruhrgebiet. Eine Studie löst eine Diskussion um Gewalt durch Polizisten aus. Doch auch sie sind zunehmend von Gewalt betroffen. Ihr Beruf wird gefährlicher.
Ein Radfahrer telefoniert während der Fahrt. Als sie ihn anhalten, riechen die Polizisten Marihuana. Sie durchsuchen den Mann und ertasten einen Gegenstand, Drogen womöglich? Doch der Verdächtige weigert sich, den Gegenstand herauszugeben. Als der Polizist sein Handgelenk ergreift, wehrt der Mann sich. Der Polizist wird schwer verletzt.
Der Fall soll illustrieren, wie Alltagssituationen umschlagen können in Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten. Er stammt aus dem letzten NRW-Lagebild zum Thema, es arbeitet mit Zahlen aus 2021: Fast jede 160. Straftat, die in die Kriminalstatistik einfloss, richtete sich gegen Polizistinnen und Polizisten. Das entspricht rund 7600 Fällen. Im Schnitt gab es also 21 Angriffe und Übergriffe jeden Tag. Dabei entfällt ein Gros auf den „Widerstand“. Aber der „Tätliche Angriff“ und die Körperverletzungen machen noch fast ein Drittel aus. Aktive Angriffe geschehen also sechs bis sieben Mal pro Tag. Und der Trend zeigt nach oben. Nimmt man nur die Tätlichen Angriffe, hat sich ihr Anteil von 2018 auf 2021 fast verdoppelt.
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Die Gewalt gegen Polizisten muss man in der Theorie getrennt betrachten von der Gewalt durch Polizisten, die gerade Thema eines großen Streits ist zwischen dem Kriminologen Tobias Singelnstein und Polizeivertretern. Singelnstein (Uni Frankfurt) hatte in dieser Woche eine Studie vorgestellt, laut der es erheblich mehr Gewalt durch Polizisten gebe, als in der Statistik auftauche. Nur etwa neun Prozent aller von ihm befragten Betroffenen hätten Anzeige erstattet. Auch würden Verdachtsfälle übermäßig oft von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Nicht nur die Gewerkschaft der Polizei (GdP) warf Singelnstein methodische Mängel vor. Auch Erich Rettinghaus, Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), kann „nichts Gutes finden“, an der Studie.
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In der Praxis jedenfalls erfahren Polizistinnen und Polizisten zunehmend Gewalt und Bedrohungsgefühle im Berufsalltag. „Die Hemmschwelle ist gesunken“, sagt Rettinghaus. „Gewalt wird viel früher angewendet, von Null auf Hundert. Sie werden gerufen, weil jemand eine Einfahrt blockiert, und es kann sein, dass ein paar Wildfremde nichts besseres zu tun haben, als die Polizei anzumachen. Warum soll ich denn weggehen, geh du doch weg, heißt es dann.“ Und es sei eben nicht immer möglich zu deeskalieren. „Oder wir fahren weg und der Pöbel hat gewonnen.“
Schwere Verletzungen sind die Ausnahme
Einsatz vorm Nachtclub: Polizisten halten einen Störer am Boden fest, da mischt sich ein Betrunkener ein. Es gelingt den Polizisten nicht, ihn auf Distanz zu halten. Als die Verstärkung kommt, bringen sie auch diesen Mann zu Boden. Aber dabei sperrt er sich mit aller Kraft, stemmt sich mit seinem Körpergewicht gegen das Knie eines Polizisten, der sich dabei schwer verletzt. Er löste sich aus der Fixierung und flüchtet. Ein weiterer Beamte stürzt und verletzt sich leicht. Der Betrunkene wird geschnappt.
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Zum Glück sind solche schweren Verletzungen die Ausnahme (13 Personen im Jahr 2021). Leicht verletzt werden jedoch im Schnitt jeden Tag neun Polizistinnen und Polizisten. Der Großteil der Angriffe bleibt ohne körperliche Folgen. Ein Trend lässt sich bei den Gefährlichen und Schweren Körperverletzungen nicht ausmachen, sie unterliegen stärkeren Schwankungen. Zuletzt waren es inklusive der versuchten Taten 349 Fälle. Das gilt umso mehr für die Delikte Mord und Totschlag, die sich seit 2018 jedes Jahr im einstelligen Bereich bewegen.
Von zuletzt rund 6700 Tatverdächtigen war laut Lagebild ein Fünftel weiblich, Tendenz leicht steigend. Der Anteil der Nichtdeutschen Tatverdächtigen lag bei 29,4 Prozent und ist im Vergleich zu 2018 um einen Prozentpunkt gesunken. Die Mehrheit handelte unter Alkoholeinfluss und war der Polizei bekannt. 42 führten scharfe Schusswaffen mit. Erich Rettinghaus glaubt aufgrund der Einsatzberichte, dass der Gebrauch von Messern zugenommen habe, und fordert ein Lagebild.
Alle Schichten betroffen
Ratingen, vergangenen Donnerstag: Ein Mann aus der Reichsbürgerszene lockt Polizisten und Feuerwehrleute in eine Falle. Führt eine Explosion herbei, als sie die Tür öffnen wollen, legt anschließend Feuer, so die ersten Erkenntnisse. 31 Einsatzkräfte werden verletzt, fünf von ihnen lebensgefährlich.
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Der Fall zeige, dass das Bedrohungspotenzial in allen Schichten existiere, sagt Rettinghaus. „Auch lebensältere Menschen radikalisieren sich derzeit, wenden sich ab vom Staat. Das subjektive Sicherheitsempfinden muss stark gelitten haben.“ Der Gewerkschafter macht die „Zweifel am Gewaltmonopol des Staates“ auch daran fest, dass es Polizistinnen und Polizisten immer schwerer gemacht werde, legitimen Zwang auszuüben.
„Nehmen Sie ein Tumultdelikt, wo sie direkt eine Menschenmenge um sich haben“, das sei zum Beispiel in Duisburg-Marxloh öfter der Fall. „Wir trainieren sowas, aber es bleibt schwierig, wenn 50 Menschen um den Wagen herumlaufen und alles filmen. Wenn sie dann jemanden nur beiseiteschieben, wird geschrien und gezetert und bei Facebook heißt es dann: Polizeigewalt“, erklärt Rettinghaus. Auch auf jede Anzeige durch einen Polizisten komme sogleich eine Gegenanzeige wegen Körperverletzung im Amt. „Das wird dann zwar alles ermittelt, aber erst mal steht der Vorwurf im Raum, und das belastet auch. Wir brauchen mehr Rückhalt von der Politik und der polizeilichen Führung.“