Bochum/Ratingen. Ein Routine-Einsatz in Ratingen wird für André Lampe zum Alptraum. Wochenlang kämpft er um sein Leben. Nun will der 31-Jährige zurück in den Job.
André Lampe trägt jetzt Brille. „Aber ich hab überlebt, ich bin nicht entstellt, nicht erblindet – mein Schutzengel muss Überstunden gemacht haben“, sagt der 31-Jährige. Am 11. Mai, einem sonnigen Frühlingstag, wurde der Notfallsanitäter zu einem Hochhaus in Ratingen gerufen. Ein Alltagseinsatz eigentlich. Doch er wurde zum Alptraum, zur Feuerhölle. Die Ermittler gehen heute davon aus, dass der Mann, dem Lampe helfen wollte, die Einsatzkräfte absichtlich angegriffen hat. 35 Feuerwehrleute, Polizisten und Polizistinnen, Rettungsdienstler wurden damals insgesamt verletzt, fünf von ihnen lebensgefährlich. André Lampe ist einer von ihnen.
14 Wochen später sitzt Lampe im Bochumer „Bergmannsheil“, willens über das traumatische Erlebnis zur reden. An seiner Seite: zwei seiner Ärzte und die Chef-Physiotherapeutin. Drei Wochen hat er im Koma gelegen, sich in den vergangenen Monaten Stück für Stück ins Leben zurückgekämpft. Die Narben auf seinem Körper werden von Handschuhen und einer dicken Schicht Sonnencreme verdeckt; auch die auf der Seele sieht man nicht.
Lampe weiß noch, dass er an jenem Vormittag mit seiner Kollegin vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) in Ratingen diskutiert, was sie fürs Mittagessen einkaufen könnten, als sie der Notruf erreicht. „P-Tür“ lautet das Stichwort, einer hilflosen Person hinter einer verschlossenen Wohnungstür gilt es zu Hilfe zu eilen. „Zwei-, dreimal im Monat kommt so etwas vor“, erzählt Lampe heute. „Die Feuerwehr macht die Tür auf, wir gehen rein und gucken, ob wir noch helfen können.“
„Plötzlich gab es Geschrei, einen Knall, dann schlugen Flammen aus dem Loch“
Zu neunt stehen die Erst-Helfer damals im engen Flur vor der Wohnung im zehnten Stock. Die Tür ist blockiert, die Feuerwehrleute schlagen eine Scheibe seitlich neben dem Eingang ein, um sich Zugang zu verschaffen. Getränkekisten müssen beiseite geräumt werden. Dann klettern zwei junge Polizeibeamte, eine Frau und ein Mann, durch das Fenster in die Wohnung. „Ich wäre als nächster dran gewesen“, erzählt André Lampe. „Plötzlich gab es Geschrei, einen Knall und dann schlugen gewaltige Flammen aus dem Loch.“
Was genau geschah, ist auch heute noch nicht vollständig geklärt. Ein 57-Jähriger wurde nach der Tat wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung in neun Fällen verhaftet, er schweigt. Gewaltige Mengen Benzin fanden sich Medienberichten zufolge in seiner Wohnung – und eine skelettierte Leiche in einem Rollstuhl, seine Mutter (91). Mutmaßlich hat der Mann den Einsatzkräften ein Gemisch aus Benzin mit anderen explosiven Stoffen entgegengeschleudert und es dann entzündet. In den nächsten Tagen soll Anklage gegen ihn erhoben werden.
Die Fingerkuppen: geschmolzen
André Lampe muss damals noch die Hände vors Gesicht gerissen haben. In Panik rennt er mit den anderen die Treppe hinunter. Irgendwann erkennt er, dass in den Flammen, die ihn „verfolgen“, die Polizistin steckt, brennend. „Wir brauchen Hilfe“, denkt er. „Das Feuer muss doch gelöscht werden.“ Er versucht, über sein Handy die 112 zu wählen. Doch seine Fingerkuppen sind geschmolzen. „Sie gaben beim Druck aufs Display einfach nach“, erinnert er sich. „Es war vollkommen surreal.“
Auf der Straße angekommen, will der 31-Jährige die anderen Verletzten versorgen. „Dafür bin ich doch drei Jahre lang ausgebildet worden“, sagt er sich immer wieder. Er versteht nicht, dass sein Körper nicht mehr mitspielt, dass er unter Schock steht. Als er endlich wahrnimmt, wie schnell sein Herz schlägt, wie schlecht er Luft bekommt, welche Schmerzen er hat und wie kalt ihm ist, wird ihm klar: „Das ist ernst, konzentrier’ dich jetzt einfach darauf nicht zu sterben.“ Seine letzte Erinnerung: Ein Feuerwehrmann legt ihm eine Decke um.
„Wie geht es mir? Schaffe ich die nächsten drei Tage?“
Ein Hubschrauber bringt den Schwerstverletzten ins Berufsgenossenschaftliche Universitätsklinikum Bergmannsheil in Bochum. Dr. Johannes Max Wagner, Oberarzt im Schwerbrandverletztenzentrum, diagnostiziert schwere Verbrennungen im Gesicht und an den Händen sowie eine „thermische Schädigung der Lunge“. Das ist eine Folge des Einatmens heißer und womöglich giftiger Gase. Lebensbedrohlich. Lampe erhält einen Luftröhrenschnitt zur Beatmung, wird ins künstliche Koma gelegt.
Auf der Intensivstation wacht André Lampe wieder auf, seine Hände sind dick verbunden, er hängt an ungezählten Schläuchen, in seinem Hals steckt eine Kanüle, reden kann er nicht. Er denkt, dass ein paar Stunden vergangen sind, seit er in Ratingen auf der Straße lag; er startet eine Selbst-Anamnese: „Wie geht es mir? Herz? Atmung? Schaffe ich die nächsten drei Tage?“ Die ersten drei Tage sind entscheidend, hat er gelernt.
Von seinem Bruder und seinem Vater erfährt Lampe, dass ihm nicht nur ein paar Stunden fehlen, sondern drei ganze Wochen. „Gruselig“, findet er das. Er wollte doch in Urlaub fahren, den 30. Geburtstag einer Freundin feiern, zum Japantag in Düsseldorf. Alles verpasst? „Aber die drei ersten Tage sind geschafft“, tröstet er sich.
Gasexplosion oder Bombe? „Mir war das relativ egal“
Die Wunden im Gesicht heilen unter einer Spezialmaske von allein ab. Aber über die Verbrennungen an den Händen müssen Hauttransplantate gelegt werden. Operateur Wagner schneidet sie aus Lampes rechten Oberschenkel, die Verbandswechsel später sind für den Patienten „die Hölle“, nur mit Schmerzmitteln zu ertragen. Wo der Ärmel der Sanitäter-Jacke endete, ist auch nach der OP noch deutlich zu erkennen.
Nach und nach erst erfährt Lampe, was passiert ist; dass es tatsächlich „kurz vor knapp“ war; dass Tausende Anteil nehmen an seinem Schicksal; Geld sammeln für die Verletzten. Er kann noch nicht wieder sprechen, als ihm jemand erzählt, dass der Mann in der Wohnung die Rettungskräfte womöglich geplant attackiert hat. „Mir war diese Info relativ egal, ich war mit den Folgen beschäftigt, versuchte nicht verrückt zu werden, sorgte mich um die Kollegen“, sagt Lampe heute. „Ob da jemand eine Bombe gezündet hat, oder ob es eine Gasexplosion war, interessierte mich wenig.“
Die ersten zwei, drei Tippelschritte – ein Riesenerfolg
Die psychologische Hilfe, die ihm das Bergmannsheil anbietet, nimmt er sofort an. Der Sanitäter macht sich „massive Vorwürfe“, überlegt wie er das Unglück hätte verhindern können. Er wälzt absurde Gedanken in seinem Kopf hin und her. „Was hab ich übersehen? Was hätte ich besser machen können?“ Andere müssen ihm sagen, dass es nicht seine Schuld war, was passiert ist.
Noch auf der Intensivstation beginnt die Physiotherapie, bereits vier Wochen nach dem Unfall wird Lampe in die Reha-Abteilung des Bergmannsheils verlegt. Als eine von von nur drei deutschen Kliniken bietet das Bochumer Bergmannsheil eine spezielle Form der „Komplexen Stationären Rehabilitation“ (KSR) Schwerbrandverletzten an.
„Er war noch bettlägerig wegen seiner Lungenverletzung“, erinnert sich Chefarzt Dr. Sven Jung. „Viel ging wirklich nicht“, ergänzt Lampe. Als erstes üben die Therapeuten mit ihm das Aufsetzen im Bett. Vor seinem Unfall war der 31-Jährige durchtrainiert, ging Bouldern, stemmte Hanteln. Nun ist er stolz, als er sich zwei Sekunden aufrecht halten kann. Die ersten zwei, drei Tippelschritte im Zimmer „rechts und links eingehakt“, wertet er als seinen größten Erfolg.
Punk-Musik im Krankenbett
Den Physiotherapeuten, sagt Lampe heute, sei es gelungen, seinen Fokus auf solche Erfolge zu lenken, ihn immer wieder neu zu motivieren. Erst später müssen sie den 31-Jährigen in seinem Trainingseifer auch mal bremsen. Einmal übernimmt Lampe sich so sehr so, dass er bewusstlos umkippt. „Synkope“, raunt er den Therapeuten noch zu. Die richtige Dosierung bei der Therapie zu finden, sei in Lampes Fall die wahre Herausforderung gewesen, erinnert sich Lisa Neumann, die Leiterin des Therapiebereichs.
Lampe ist in Bochum auch der erste Handverbrannte, in dessen Zimmer ein perplexer Arzt eines Tages eine Gitarre entdeckt. André Lampe liebt Punk, trommelt gerade eine Band zusammen, will wieder Musik machen. „Therapeutisch super gut“, ermuntert ihn Jung. Am 6. Juli, exakt acht Wochen nach dem 11. Mai, kann Lampe das Krankenhaus verlassen. „Mein Bauchgefühl“, sagt Reha-Fachmann Jung, „hatte gesagt, dass das sehr viel länger dauern würde.“.
„Ich werde nie mehr der Alte sein“
Als Lampe heimkommt, haben seine Freunde seine Wohnung geputzt und alle Fenster mit Sonnenschutz-Folie beklebt. Sonnenlicht muss der 31-Jährige wegen seiner Verbrennungen meiden. Die Reha setzt er ambulant fort, fährt dafür zunächst zweimal täglich eine knappe Stunde von Ratingen nach Bochum und zurück.
„Ich komme im Großen und Ganzen gut zurecht“, sagt Lampe. „Aber alles geht langsamer, alles ist anstrengender.“ Rund um die Uhr muss er Kompressionshandschuhe tragen, die nur die Kuppen frei lassen. Sie sollen verhindern, dass sich auf den Transplantaten überschüssiges Narbengewebe bildet. „Narben sind der Feind“, sagt der Wagner, der plastische Chrirurg. Nur zum Waschen darf Lampe sie ausziehen, an heißen Tagen scheuern sie furchtbar.
„Ich werde nie mehr der Alte sein“, sagt Lampe, das sei ihm bewusst. Aber er kämpft, dass ihn sein Trauma nicht ein Leben lang verfolgt. Darum will er auch zum Prozess, wenn er stattfindet. Er hofft, nach dem Urteil endlich abschließen zu können. „Aber ich will auch meinen Körper zurück“, sagt Lampe: die 17 Kilo, die er im Krankenhaus verlor, die Muskeln, die er sich vor dem Unfall durch hartes Training erarbeitet hatte. Und er will wieder vernünftig Gitarre spielen können. „Im richtigen Tempo, alle Akkorde.“
Im Dezember will der Notfallsanitäter zurück in den Job
Im Bochumer Bergmannsheil wünschen sie ihm alles Glück der Welt dafür. Das Schicksal des Notfallsanitäters habe niemanden kaltgelassen, erzählt Jung, selbst Kollegen nicht, die schon „viel gesehen“ hätten. Johannes Max Wagner, der Chirurg,, ergänzt: „Dass jemand, der helfen will, gezielt angegriffen wird, ist schon sehr, sehr perfide.“
Lampe selbst war sich stets der Tatsache bewusst, dass ihm das irgendwann passieren könnte, auch wenn er zuvor nie einen gewalttätigen Übergriff erlebt hat. „Nahe dran war es mehr als einmal. Und Beleidigungen sind an der Tagesordnung, Respektlosigkeit erlebe ich täglich. Wir werden immer mehr als Dienstleistungserbringer, nicht als Rettungskräfte wahrgenommen.“ Das führe auch dazu, sagt er, „dass immer mehr Kollegen den Beruf verlassen“.
Lampe selbst will aber zurück: Er will wieder als Notfallsanitäter beim DRK in Ratingen arbeiten. „Wir brauchen dich hier“, hat ihm sein Team gesagt. Und er liebt den Job, den er seit 2016 macht. Er sei Notfallsanitäter geworden, sagt Lampe, weil er Menschen helfen wolle. Sein Vater sei im Rettungsdienst, seine Mutter Intensivkrankenschwester und sein Bruder Altenpfleger. „Im Büro Zahlen von links nach rechts zu schieben, das wäre nichts für mich.“
Anfang Dezember will er wieder am Start sein. Im Winter werde es personell oft eng. „Da brauchen sie mich“, sagt Lampe. Aber der erste „P-Tür“-Einsatz werde sicher schwer. Er hat schon davon geträumt. In seinem Traum betrat er eine Wohnung, in der ihn ein Mann mit einem Maschinengewehr erwartete.