Witten. Nadine Goralski hat zwei Söhne verloren. Die 36-Jährige verarbeitete ihr Trauma mit täuschend echt wirkenden Reborn-Puppen. Schräg oder schön?
Nadine Goralski hält ein winziges Baby im Arm. Es hält die Augen geschlossen und scheint sich an die Wittenerin zu kuscheln. Erst der zweite Blick offenbart: Das Kind ist eine Puppe. Genauer: eine sogenannte „Reborn“-Puppe. Seit vier Jahren beschäftigt sich die 36-Jährige damit, das natürliche Vorbild möglichst exakt nachzubilden.
Wittenerin verarbeitet anfangs Tod zweier Kinder
Was zunächst als eine Art Therapie begann, mit der sie den Tod zweier Kinder verarbeiten wollte, ist schnell zu einem leidenschaftlichen Hobby geworden. Inzwischen hat sich die junge Frau aus Heven sogar selbstständig gemacht. Wem Nadine Goralski übrigens bekannt vorkommt: Wir haben vor zehn Jahren begonnen, regelmäßig über das Schicksal der Familie zu berichten.
Denn ihr Sohn Louis erblickte am 25. November 2014 als extremes Frühchen im Marien-Hospital das Licht der Welt. Er wog damals nur 460 Gramm und musste ein paar Tage später am Herzen operiert werden. Heute ist Louis ein fröhlicher, aufgeweckter Junge.
Levin und Matheo liegen zusammen auf Wittener Friedhof
Sein Zwillingsbruder Levin, der nur 242 Gramm wog, starb nach drei Wochen. Im März 2020 brachte Nadine Goralski erneut ein Kind zur Welt. Matheo starb kurz nach der Geburt. Nun liegen Levin und Matheo zusammen in einem Grab auf dem Friedhof der Kreuzgemeinde. Der Kinderwunsch blieb. Im Oktober 2023 hat die Familie erneut Nachwuchs bekommen. Lennard, der zehn Wochen zu früh geboren wurde, krabbelt inzwischen munter durch die Wohnung.
Nach Matheos Tod begann Nadine Goralski mit der Herstellung der Reborn-Puppen. „Als ich damals aus dem Krankenhaus kam, hatte ich das Bedürfnis, ein kleines Baby im Arm zu halten, etwas anschauen zu können, was echt aussieht.“ Sie hat sich dann - nach Rücksprache mit ihrem Mann Sebastian, der zunächst skeptisch war, - den ersten Bausatz gekauft, in das Thema eingelesen, Youtube-Videos angeguckt - und selbst losgelegt.
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Der Bausatz besteht aus Kopf und Gliedmaßen. Der Körper ist aus Stoff - mit dem der Größe entsprechenden Gewicht eines echten Babys. Mit Ölfarbe, die langsamer trocknet als Acrylfarbe und leichter zu korrigieren ist, erweckt die Hevenerin den Rohling zum Leben. Zarte Lippen, rosa Wangen, die Haarstruktur, aber auch jedes hauchfeine Äderchen malt sie auf - bis ein echtes Hautbild entsteht. Die Augen bestehen aus hochwertigem Lauscha-Glas und werden in die dafür vorgesehenen Öffnungen gedrückt.
Eigentlich wollte sie gar nicht weitermachen
Mit dem Aussehen der ersten Puppe war Goralski nicht besonders zufrieden. Eigentlich wollte sie gar nicht weitermachen. „Doch plötzlich hat mich der Ehrgeiz gepackt. Und ich brauchte das einfach, um meiner Trauer Raum zu geben.“ Sie fühle sich bei der Arbeit frei. Gleichzeitig war „es mein Halt“. Außerdem hat die Mittdreißigerin schon immer gerne mit Pinsel und Farbe hantiert. Sie weiß: „Viele denken, man müsste einen psychischen Knacks haben, um so etwas zu machen. Aber das ist eigentlich Kunst.“
Längst hat sich die gelernte Einzelhandelskauffrau mit ihrem Kleingewerbe unter dem Namen „Nany‘s kleine Twinklestars“ in der Szene etabliert. Nadine Goralski präsentiert ihre „Püppis“, wie sie die Babys gerne nennt, deutschlandweit auf Messen. Sie hat Fan-Gruppen und Stammkunden, verkauft sogar nach Amerika, wo das „Rebornen“ seinen Ursprung hat. Ihre teuerste Puppe kostete 1500 Euro.
Wittenerin fertigt Puppen für Frauen, die auch ein Kind verloren haben
Sie fertigt Reborns für Frauen, die dasselbe erlebt haben wie sie. „Sie schicken mir ein Foto oder teilen mir ihre Vorstellungen mit.“ Unter den Kundinnen sind aber auch Sammlerinnen, die die lebensechten Babys einfach schön finden - „so wie andere Autos“, sagt Nadine Goralski. Sie hat sogar schon zwei Preise gewonnen - im Bereich Fantasy.
Denn die Hevenerin fertigt auch sogenannte „Horror-Dolls“, die wie kleine Teufel oder andere fremdartige Wesen aussehen. „Die sind auf dem Markt gefragt. Ich finde die selbst toll und kann da meine Kunst so richtig ausleben.“ In ihrem Wohnzimmer, das gleichzeitig Atelier ist, sitzen oder liegen die Puppen in Regalen. Rund 100 hat sie inzwischen erschaffen.
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Ein zartes Wesen fällt dabei besonders ins Auge. Nadine Goralski nennt es ihre „Elfe“: Das winzig kleine, noch nicht vollständig ausgewachsene Baby sitzt in einer überdimensionalen Tasse. Es ist so klein und leicht wie Louis bei seiner Geburt. Sie habe ihrer Familie eine Vorstellung davon vermitteln wollen, wie der Junge als Frühgeburt aussah. „Es konnte ihn ja kaum jemand auf der Intensivstation besuchen.“
Dass es auch Geräusch-Module zum Einsetzen in den Körper gibt, die die Puppen atmen oder weinen lassen, oder sogar „Babyklons“, deren Besitzer nachts zum Windeln wechseln aufstehen, findet selbst Nadine Goralski ziemlich schräg. „Das ist nicht meine Welt.“
Die zweifache Mama hat auch schon eine Puppe fürs Marien-Hospital hergestell, ein Frühchen mit Beatmungsschlauch. „Als Dankeschön und eine Art Übungspuppe.“ Aber eigentlich, sagt sie, „ist das kein Gebrauchsgegenstand“. Sondern Kunst, „die meinem Herzen guttut“. So wie ihre beiden Jungs Louis und Lenny sie jeden Tag glücklich machen.
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