Herne. Immer, wenn es um Baumfällungen geht, wird der Verwaltung vorgeworfen, dass die Stadt zubetoniert wird. Ist das so? Ein Denkanstoß.

Einmal wird der Stadtverwaltung unterstellt, sie behandele Bäume als „Staatsfeinde“, andere sehen die
Gefahr, dass der Gysenberg abgeholzt wird. Andere beziehen die den Cree-Indianern zugeschriebene Weissagung, die mit den Worten beginnt „Erst wenn der letzte Baum gerodet ist...“, auf Herne. Verliert
Herne also an Grün und wird zubetoniert? Wenn man den Blick - gerade zeitlich - etwas weitet, ergibt sich
ein differenziertes Bild. Ein Denkanstoß in der Debatte.

Schaut man ganz weit in die Vergangenheit, hat Herne selbstverständlich an Grün und Bäumen eingebüßt. Vor der Industrialisierung war die Emscherregion landwirtschaftlich geprägt. Doch mit der Kohle änderte sich das. Die Zechen prägten das Bild. Es verschwand viel Grün, Bäume hatten es schwer. „Die einzige Baumart, die mit den Staubemissionen zurecht kam, war die Platane“, so Heinz-Jürgen Kuhl, Leiter des Fachbereichs Stadtgrün.

Pluto, Optelaak, Flottmann, Uhlenbruch: Auf vielen Flächen kehrte Grün zurück

Doch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann das Zechensterben - und an dieser Stelle wird der Blick auf den Grünanteil in der Stadt interessant. In vielen Fällen kehrte nämlich das Grün - und damit Tausende Bäume - zurück. Manchmal steckt die Entwicklung schon im Namen: Kunstwald Teutoburgia. In Constantin grünte es, wer auf verschlungenen Pfaden auf dem Areal der Zeche Königsgrube in
Röhlinghausen wandelt, kann zwischen dichtem Grün überwucherte Gleise der Zechenbahn entdecken.


Doch es gibt auch Beispiele abseits der Zechen, bei denen das Grün die Industrie abgelöst hat, etwa der Skulpturenpark bei Flottmann, oder das sogenannte Optelaak-Gelände in Wanne. Dort wurde früher Schlacke gelagert, nun ist es dort grün. Oder der Hibernia-Gewerbepark in Holsterhausen. Früher war dort chemische Industrie, heute sind dort zwar auch zahlreiche Betriebe, aber unter dem Strich entstand viel Grün. Und mit der Gracht auch eine Wasserfläche. Und wer heute den Uhlenbruch zum Joggen oder Spazieren mit dem Hund nutzt: Das war bis 1978 eine Hausmülldeponie.

Die Stürme Ela und Friederike sorgten für die größten Baumverluste in den letzten Jahren

Bei der zahlreichen Kritik, die immer dann aufkommt, wenn es um Baumfällungen geht, darf man vielleicht fragen, ob die Herner das Grün ihrer Stadt überhaupt kennen. Wer weiß alles, dass man in etwa einem Kilometer Luftlinie von der Kreuzkirche entfernt mitten im Grünen steht - nämlich an der Wiescherstraße. Von dort kommt man durch Felder zum Constantiner Wald und von dort
über eine ehemalige Bahntrasse zum Gysenberg. Und wissen die Alt-Herner, dass sie in Wanne vom Optelaak-Gelände über die Erzbahntrasse zur Plutohalde kommen und von dort einen Blick über das halbe
Ruhrgebiet haben?

Ja, es mag Stellen in der Stadt geben, in der man keinen einzigen Baum sieht, wenn man sich um 360 Grad dreht, aber es dürften wenige sein. Wer der Stadt vorwirft, sie würde zu viele Bäume fällen, sollte wissen, dass die größten Eingriffe in den Herner Baumbestand in den jüngeren Jahren die Natur selbst vorgenommen hat: die Stürme Ela und Friederike. Zusammen gingen fast 5000 Bäume verloren oder wurden geschädigt, weiß Kuhl, das Land habe die Städte bei der Reparatur allein gelassen. Das ist vor allem vor dem Hintergrund der Kosten für Neuanpflanzungen wichtig: Die Kosten für die Pflanzung eines Baums liegen bei 800 Euro, hinzu kommen 125 Euro pro Jahr für die Wässerung und durchschnittlich 35 Euro Folgekosten im Jahr. Und dennoch hat die Stadt die Pflanzung von 1500 Bäumen in den nächsten sechs Jahren geplant.

Stadt muss bei der Stadtentwicklung Kompromisse eingehen

Dieser Verlust muss für die Stadt aber umso mehr Ansporn sein, zu schauen, wo neue Bäume gepflanzt
werden können und wo welche gerettet werden können. Bei Projekten müsse man immer Kompromisse machen, so Kuhl. Anders geht es gar nicht: Eine alleinige Sicht auf den Erhalt von Bäumen würde die
Stadtentwicklung wohl weitgehend zum Erliegen bringen. Und wenn man weiß, dass Einzelhandelsunternehmen neue Standorte auch nach der Kaufkraft auswählen, offenbart sich ein Zusammenhang, der gerne übersehen wird. Mit verschiedenen Wohnbauprojekten nahe der Herner Innenstadt schafft die Stadt nicht nur neuen Wohnraum, sondern stärkt auch die Kaufkraft. Dafür fallen auch Bäume, wie am Stadtgarten. Das heißt: Das Fällen eines Baumes hängt indirekt mit der Entwicklung des Einzelhandels in der City zusammen.

Beim Kompromiss lohnt sich noch ein weiterer Blick: Sowohl der Fußballplatz am Stadtgarten in Herne, als
auch der Kunstrasenplatz an der Reichsstraße weichen Wohnbebauung. Dafür werden auch Bäume fallen, allerdings: die Spielflächen selbst sind ökologische Wüsten, es kann also im Saldo ein Zugewinn an Grün herauskommen. Selbstverständlich werden neu gepflanzte Bäume zunächst viel kleiner sein als die ausgewachsenen, die gefällt werden. Hierzu sagt Kuhl: „Die Natur, die wir heute bauen, ist nicht mehr für uns, sondern für unsere Kinder und Enkelkinder.“

Auch bei Fällung von Bäumen im Stadtgarten hagelte es Kritik an der Stadt. Dabei ist sie der falsche Adressat. Die Emschergenossenschaft verlegt den Ostbach. Doch dazu muss man wissen. Sie setzt eine gesetzliche Vorgabe der EU um, nämlich: Gewässer an die Oberfläche zu holen. Plätschert der Ostbach erstmal durch den Stadtgarten, wird er die Lebensqualität heben. Der positive Einfluss von Gewässern ist durch Studien erwiesen.

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Dennoch muss sich die Stadt Kritik gefallen lassen: In der Vergangenheit hat sich bei mehreren Projekten herausgestellt, dass es noch bessere Lösungen gibt - mit weniger Baumverlusten. Also muss noch
mehr um jeden Baum gerungen werden. Und es muss der Öffentlichkeit stärker vermittelt werden,
warum genau diese Lösung die beste im Sinne des Baumerhalts ist. Allerdings: Auch wenn die Stadt
ständig nach Flächen suche, wo man Bäume pflanzen kann (was auch eine Kostenfrage ist), Landschaftsgestaltung dürfe nicht nur auf Bäume reduziert werden. So pflanzt die Stadt verstärkt Blühstreifen, unter anderem war die Fläche im neuen Kreisverkehr in Wanne-Süd ein Blumenmeer. Das hilft den Insekten - und manchen wohl beim Zusammenstellen eines Blumenstraußes.

Sind Bäume also Staatsfeinde für die Stadt? Und wird sie immer mehr zubetoniert? Bei genauerer Betrachtung ist Herne wohl grüner als mancher denkt.

Zum Schluss noch eine bewusste Polemik: So wie manche Schmutzfinken mit Grünflächen umgehen und sie als Müllhalden missbrauchen, haben sie eigentlich nur Beton verdient.