Bochum. Johan Simons bringt den Bestseller von Elena Ferrante als XXL-Premiere ins Schauspielhaus Bochum. Anstrengend, maßlos und beglückend zugleich.

Die ältere Dame in Reihe acht ist bestens vorbereitet: Einen Müsli-Riegel, eine Flasche Wasser und paar Kaugummi kramt sie aus ihrer Tasche hervor. „Das ist mein Care-Paket“, scherzt sie. „Man weiß ja nie.“ Schließlich könnte die Sitzung mal wieder etwas länger dauern. Seitdem Intendant Johan Simons sein Faible fürs Epische entdeckt hat, gehen am Schauspielhaus Bochum öfter mal spät die Lichter aus.

Johan Simons schickt sein Publikum wieder auf die Langstrecke

Der Dostojewski-Klassiker „Die Brüder Karamasow“ war im vergangenen Jahr der erste Siebenstünder, der bestens besucht war. Von diesem Erfolg spürbar beflügelt, schickt Simons sein Publikum erneut auf die Langstrecke, mit einer Adaption der Bestseller-Reihe „Meine geniale Freundin“ von Elena Ferrante. Über sechs Stunden sind es, unterbrochen immerhin von zwei längeren Pausen und einem Antipasti-Imbiss zur Stärkung.

Doch wer ausgeschlafen und geduldig genug ist, all dem bis zum bitteren Ende zu folgen, wird reich belohnt: mit einem vitalen Ensemble und einer in weiten Teilen packenden Geschichte, die man auch dann versteht, wenn man die Bücher nicht kennt.

Meine geniale Freundin, Schauspielhaus Bochum
Das Bühnenbild zu „Meine geniale Freundin“ zeigt eine neapolitanische Piazza. Hier eine Szene beim Sonnenbad mit (von links) Karin Moog, Stacyian Jackson, Jele Brückner, William Cooper und Oliver Möller. © Schauspielhaus bochum | Joerg Brueggemann / OSTKREUZ

Für einen Bühnenmarathon ist „Meine geniale Freundin“ clever gewählt. Die vier Romane über eine Mädchenfreundschaft waren ein Sensationserfolg mit Millionen-Auflage, gelesen und geliebt auf der ganzen Welt. Auf fast 2000 Seiten erleben die beiden Hauptfiguren Lila und Lenù darin eine emotionale Reise, die im Neapel der 1940er Jahren beginnt und fast bis in unsere Zeit führt. So ungleich die beiden auch sind: Sie wachsen den Lesern im Laufe der turbulenten Handlung mächtig ans Herz.

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Trotz sechs Stunden Spiellänge: vieles wird gekürzt

Die Bühnenadaption, die Koen Tachelet aus den Büchern gefertigt hat, besitzt zwangsläufig einen gewaltigen Mut zur Lücke. Gerade im ersten Teil, der Kindheit und Jugend der beiden Heldinnen beleuchtet, wird vieles nur angedeutet und eine Menge gestrichen, was eiserne Ferrante-Fans womöglich etwas enttäuschen dürfte. Da sind sechs Stunden fast noch zu kurz.

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Dafür verwendet die Aufführung einige Sorgfalt darauf, die Reise durch die Jahrzehnte anschaulich zu illustrieren. Wie sich allein die Kostüme von Katrin Aschendorf im Laufe des Abends wandeln – von den miefigen 50ern über die Flower-Power-Ära bis in die bunten 80er hinein – ist wundervoll. Und selten zuvor dürfte eine Inszenierung von Johan Simons so musikalisch dahergekommen sein: Der stimmige Soundtrack reicht von den Beatles über die Rolling Stones bis zu Billie Eilish.

Turbulentes Leben auf einer Piazza

Im Bühnenbild von Wolfgang Menardi, der das pulsierende Neapel als etwas trostlose Piazza mit hohen Holzwänden zeigt, werden die Zuschauer zum Teil der Handlung. Während der Aufführung wechseln sie zweimal ihre Plätze, so sitzt jeder (der mag) einmal mitten auf der Bühne. Ein großer Steg ragt zudem bis in die dritte Zuschauerreihe hinein, was einige Nähe schafft. Irgendwie ist man tatsächlich mitten unter diesen Figuren und erlebt ihr Glück, ihre Tragik und das ganze Gefühlschaos hautnah mit.

Meine geniale Freundin, Schauspielhaus Bochum
Unglücklich miteinander verbunden: Oliver Möller und Jele Brückner in „Meine geniale Freundin“ in Bochum. © Schauspielhaus Bochum  | Joerg Brueggemann / OSTKREUZ

Denn davon besitzen Lila und Lenù reichlich. Ihre Freundschaft geht durch dick und dünn, sie geraten an gewalttätige Männer, schuften in unterbezahlten Jobs, erleben unverhoffte Höhenflüge, bekommen Kinder, zoffen und vertragen sich. Lenù ist die kluge und vernünftige von den beiden, die als distanziert beobachtende Erzählerin auch oft durch die Handlung führt.

Kontrolliert die eine, ein Vulkan die andere

Jele Brückner gibt sie überaus kontrolliert und höchstens innerlich bebend als reife Frau. Ihre geniale Freundin hingegen ist ein Vulkan: Mit Verve und viel Freude lässt Stacyian Jackson ihre Lila leuchten. Dass beide Schauspielerinnen ein Altersunterschied von etwa 20 Jahren trennt, ist zu Beginn zwar etwas irritierend, doch später hat man diesen gewagten Kunstgriff weitgehend ausgeblendet.

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Überhaupt ist die Aufführung ein feines Ensemblestück. Alle spielen mehrere Rollen auf einmal – oftmals nahezu zeitgleich. Guy Clemens gibt den Geschäftsmann Stefano gekonnt als elenden Jammerlappen, nur um dann kurz danach mit Schnurrbart als herzenswarmer Enzo in der Tür zu stehen. Die verzweifelte Mutter der Karin Moog und der impulsive Antonio des Ensemble-Neuzugangs Ole Lagerpusch sind weitere Glanzlichter.

Die Premiere wird überschattet von einem ohnmächtig gewordenen Zuschauer, weswegen die Vorstellung im zweiten Teil eine Weile unterbrochen werden muss. Gegen halb eins neigt sich die Mammut-Aufführung dann tatsächlich dem Ende entgegen. Es gibt riesigen Beifall fürs Ensemble und das Regieteam, ehe die Besucher reichlich erschöpft, aber auch beglückt aus dem Saal wanken. Großes Theater – und ein ausuferndes dazu.

Die nächsten Spieltermine

„Meine geniale Freundin“ ist wieder am 1. Februar (ausverkauft) sowie 2. und 23. Februar, 29. und 30. März im Schauspielhaus Bochum zu sehen. Beginn: jeweils 16 Uhr. Da das Publikum im Laufe des Abends durch den Saal rotiert und mehrfach die Plätze wechselt, passen pro Vorstellung 400 Zuschauer hinein.

Während der zweiten Pause gibt es einen italienischen Imbiss (auch vegetarisch), der im Eintrittspreis enthalten ist. Karten (35, erm. 22,50 Euro): 0234 3333 5555.

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