Essen. Erst 22, aber so gut. Wir haben das heute erscheinende Album des Popstars gehört -und sagen, was diese Sängerin zur Ausnahme macht.
Erstmal schön, endlich wieder ein Superstaralbum auf den Tisch zu bekommen, das nicht gefühlt so lang ist wie ein halber Arbeitstag oder ein „Dune“-Film. Die Kolleginnen Beyoncé und Taylor Swift haben es bei aller Liebe mit ihren jeweiligen Konvoluten jüngst ja etwas übertrieben. Billie Eilish aber, die nun innerhalb von zwei Monaten als letzte der Heiligen Drei Popköniginnen mit „Hit Me Hard and Soft“ ihr neues Werk veröffentlicht, hält sich mit zehn Liedern und einer Spielzeit von knapp unter einer Dreiviertelstunde an das klassische Vinylalbumformat. Auf den ersten Blick also eine kompakte Kiste.
„Hit Me Hard and Soft“ von Billie Eilish: Riesenfülle an Ideen
Doch dann beginnt man zu hören und kramt schon nach den Kopfhörern, bevor überhaupt die ersten Worte gesungen sind, die übrigens „I fell in love for the first time“ lauten, eher geflüstert als gesungen sind und den tiefdesolaten, tiefschönen Song „Skinny“ einläuten. Ganz schnell wird also klar: diese 44 Minuten sind 44 Hundeminuten, von überall her prasseln in diesen Songs kleinste Details, versteckte Subtilitäten, überraschende Einschübe, aber auch immer wieder urplötzliche Eruptionen von Sounds und Stimme auf die angenehm überwältigten Ohren ein. Wahrscheinlich werden noch die Archäologen, die das Album in 5000 Jahren ausbuddeln, bisher unbekannte klangliche Spitzfindigkeiten in dieser Musik entdecken.
„Hit Me Hard and Soft“ ist wie immer von Billie Eilish und ihrem älteren Bruder Finneas O’Connell produziert worden. Nur nicht mehr im Kinderzimmer, wie das 2019 erschienene und bald darauf schon legendäre „When We All Fall Asleep, Where Do We Go?“, sondern in Finneas Heimstudio. Mit ins Boot genommen haben die Geschwister dieses Mal die Streicher des Attaccus Quartet, auch ein Drummer ist neu dabei. Man kann sich gut vorstellen, wie die zwei sich immer wieder ins Fäustchen lachten, wenn ihnen wieder ein besonders raffinierter Soundspielzug gelungen war.
Billie Eilish: offenherzige Bekenntnisse auf neuem Album
So wie in „L’Amour De Ma Vie“, das leicht beschwipst und französisch beginnt, um sich dann ohne jede Vorwarnung in einem 80-Jahre-Synthiegewitter à la „Take On Me“ von a-ha oder „Blinding Lights“ von The Weekend zu entladen. Oder „The Greatest“, ein anmutiges Lied über eine dann doch nicht geglückte Liebe, das zart und zärtlich loslegt, mit einer Billie, die Sätze singt wie „All the time I waited/ for you to want be naked“, bevor sie die Worte plötzlich regelrecht rausbrüllt, flankiert von einem krassen Gitarrensolo.
Albumitel passt: Streicheln, aber auch mal fest zulangen
Auch sonst passt der Titel. Das Album streichelt, aber es langt auch schon mal zu. Nach dem orchestralen „Skinny“, das an Billies Oscar- und Grammy-ausgezeichneten „Barbie“-Song „What Was I Made For?“ angelehnt ist, kommt „Lunch“, eine packende Dance-Pop-Hymne über lesbische Lust. „I could eat that girl for lunch/ as she dances on my tongue“, singt Eilish, die im vergangenen Jahr eher beiläufig und einigermaßen selbstverständlich sagte, dass sie sich sexuell sowohl zu Frauen als auch zu Männern hingezogen fühle. „Chihiro“, benannt nach einer Manga-Heldin, betört erst mit minimalem, spärlich fragilen, Synthie-Einsatz, dann fährt der Song seine House-Krallen aus. Das wundervolle „Birds On A Feather“ ist zur Abwechslung einfach mal nur explizit melodisch. „Hit Me Hard and Soft“ ist ein Album, das sich permanent dreht und wendet, ganz wie eine enge Serpentinenstraße, bei der nie klar ist, ob hinter der nächsten Kehre ein toller Ausblick oder ein entgegenkommender Bus zu erwarten ist. Wirklich toll, wie experimentierversessen, innovativ und unterhaltsam die beiden mit Popmusik umgehen, ohne dabei auf so eine ganz eigensinnige Form von Drolligkeit zu verzichten, die sich kaum beschreiben lässt.
„Dieses Album“ bin ich“, sagt Billie Eilish selbst. Sie war 17, als sie mit ihrem Debüt fünf Grammys gewann und mit ihren jugendlich-verstörenden Liedern wie „Bad Guy“ oder „Bury A Friend“ zur – unfreiwilligen – Identifikationsfigur einer Generation wurde. Eilish ist ein Mensch mit Ängsten, Abgründen und Traumata, den plötzlichen Weltruhm fand sie ganz lustig, aber auch belastend. Sie litt unter dem Verlust ihrer Anonymität, ging kaum noch aus dem Haus und hat nach eigenen Angaben kaum Freunde. Zur Party ihres 20. Geburtstags seien ausschließlich Leuten gekommen, die für sie arbeiteten, erzählte sie dem amerikanischen „Rolling Stone“-Magazin.
Wandel als Methode, sie kann alles von Boy bis Vamp
Kleidete sich Eilish anfangs burschikos, erfand sie sich für ihr zweites Album „Happier Than Ever“ (2021) als blonder Vamp ein gutes Stück weit neu, die Songs waren gediegener, vom Jazz inspirierter, etwas kitschig und erwachsener als sie selbst. Dann kam der James-Bond-Song „No Time To Die“, die „Barbie“-Nummer, und Billie Eilish gewann nicht nur Preise, sondern auch ein bisschen Zeit, um zu leben. „Ich bin einfach ein Mädchen“, sagt sie, mit 22 ja immer noch sehr jung. Über ihre Erlebnisse in Liebesdingen singt sie ausgedehnt auf „Hit Me Hard and Soft“, oft läuft es im klassischen Sinne nicht so toll, aber bei wem tut es das schon? Die amourösen Erfahrungen reichern auf jeden Fall auch Eilish‘ Kunst an, wie sich etwa im schwülen Sommerfiebersextraum „Wildflower“ nachhören lässt.
Das neue Album ist auch eine Rückkehr zur alten Billie sowie ein beeindruckend beglückender und geglückter Versuch der Selbst(wieder)findung. Die Monster, die früher unterm Bett lauerten, sitzen jetzt mit am Tisch. Und den „Goldenen Käfig“ ihrer Berühmtheit, von dem Eilish in gleich zwei der neuen Lieder singt, hat sie nicht ganz verlassen, aber schon mal die Stangen zur Seite gebogen. Sie gehe nun häufiger aus und sammele Erfahrungen, sie ist zwar nach wie vor nicht depressionsfrei, will aber keinesfalls, so betont sie, „als Aushängeschild für Depressionen“ herhalten. Billie Eilish möchte vor allem eins: Billie Eilish sein.