Essen.. Die römische Übersetzerin Anita Raja soll sich hinter dem Pseudonym Elena Ferrante verbergen: Ihr Bankkonto und Christa Wolf wiesen die Spur.
24 Jahre lang ist es Elena Ferrante gelungen, Elena Ferrante zu sein: die große Unbekannte der italienischen Gegenwartsliteratur. Nun, da ihre neapolitanische Trilogie weltweit fulminante Erfolge feiert – der erste Teil mit dem Titel „Meine geniale Freundin“ führt auch in Deutschland die Bestsellerlisten an – will ein internationaler Rechercheverbund ihre Identität aufgedeckt haben: Anita Raja, Übersetzerin im Ferrante-Verlag „Edizioni e/o“, soll die Autorin sein.
Haben Literaturwissenschaftler bislang vergeblich versucht, anhand sprachlicher Analysen das Geheimnis zu lüften, hat nun offenbar der Duft des Geldes zur entscheidenden Spur geführt. Claudio Gatti, der in New York für die italienischen Wirtschaftszeitung „Il Sole 24 Ore“ tätig ist, legt in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ Anita Rajas Einkünfte und Immobilienkäufe der vergangenen Jahre offen. Demnach hat Raja im Jahr 2000, als das erste Ferrante-Buch in Italien verfilmt wurde, eine teure Wohnung in Rom und ein Haus in der Toskana gekauft. In diesem Jahr, nachdem die Neapel-Trilogie internationaler Bestseller wurde, leistete sie sich eine römische Immobilie mit Millionenwert – gekauft von ihrem Mann, dem Schriftsteller Domenico Starnone, was Gatti auf das italienische Steuerrecht zurückführt. Akribisch verglichen die Investigativ-Journalisten die rasant steigenden Verlagseinnahmen und Rajas Honorare: „Niemand sonst im Verlag“, nicht einmal die Eigentümer, hätten „ein vergleichbares Einkommen oder eine ähnliche Steigerung des Einkommens“ erzielt. Die Verlagseigentümer zeigten sich „verärgert über einen solchen Eingriff ins Privatleben“, Anita Raja selbst gab keinen Kommentar ab.
Soweit die harten, durchaus glaubwürdigen Fakten. Ist Elena Ferrante nun nicht nur enttarnt, sondern – entzaubert? Zum Glück gibt es eine zweite, poetischere Seite der Enthüllungsgeschichte. Anita Raja wurde 1953 in Neapel geboren und wuchs auf in Rom. Ihre Mutter floh vor dem Holocaust aus Deutschland, sie entstammte einer Familie polnischstämmiger Juden in Worms. Raja arbeitete als Übersetzerin vor allem aus dem Deutschen. Für ihren Verlag übertrug sie viele Werke von Christa Wolf ins Italienische. Hier beginnt die literarische Spur zu Elena Ferrante. In einem Artikel schrieb Anita Raja über ihre Freundschaft zu der 2011 verstorbenen Autorin, sie sei „sehr prägend“ gewesen und habe sie „in Richtungen gehen lassen, von denen ich zuvor nicht einmal gewusst hatte“. Jedes Buch habe sie intensiv mit ihrem Ehemann diskutiert: „Christa hat uns regelrecht verführt.“ Diese gemeinsame Auseinandersetzung könnte erklären, warum einst eine Sprachanalyse Domenico Starnone als mögliche Elena Ferrante identifizierte.
Tatsächlich aber weisen Parallelen über die sprachliche Ebene hinaus. In „Nachdenken über Christa T.“ schnipselt sich Christa T.s Freundin deren Leben aus Erinnerungen zusammen. Mit eben diesem Motiv beginnt Ferrantes „Meine geniale Freundin“. Die individuelle Entfaltung von Frauen in einem frauenfeindlichen System, das war Wolfs großes Thema. Ersetzen wir Sozialismus durch Italiens Machismo, den Überwachungsstaat durch eine neugierige, gewaltbereite Nachbarschaft – sind wir schon bei Ferrante.
Christa Wolfs Enkelin ist die in Berlin lebende Journalistin Jana Simon; Claudio Gatti hat mit ihr Kontakt aufgenommen. „Natürlich habe ich“, schrieb sie über Elena Ferrante, „von ihrer Bewunderung für Christa Wolf gehört.“ Nur: Ferrante hat diese Bewunderung nie öffentlich geäußert. Anita Raja schon.
Über Christa T. heißt es einmal in Christa Wolfs Roman, sie zweifele „an der Wirklichkeit von Namen, mit denen sie doch umging“; der Erzählerin selbst graute es vor den „Phantasielosen“, den „Tatsachenmenschen“. Was Elena Ferrantes wirklichen Namen angeht, scheinen die Tatsachenmenschen einen Sieg errungen zu haben.