Bochum. Am 31. Dezember 1974 hat Wattenscheid seine Eigenständigkeit verloren. Seit dem 1. Januar 75 gehört es zu Bochum. Aber immer noch nicht so ganz.
Runde Geburtstage werden zünftig gefeiert. Der Fünfzigste auf jeden Fall. Nur über diesen vermeintlichen Ehrentag legen sie alle am liebsten den Mantel des Schweigens. In Bochum, um nicht zu provozieren, und in Wattenscheid, weil sie dort keinen Grund zum Feiern sehen. Dabei wurde aus beiden vor 50 Jahren eins.
Wattenscheid sollte von 1975 an nur noch ein Teil von Bochum sein
Es ist und bleibt eine zweifelhafte Hochzeit, eine arrangierte ist es noch dazu. Mit einer Gebietsreform sollte Nordrhein-Westfalen in den 1970er Jahren neu geordnet werden, von 2356 Gemeinden nur noch 396 übrig bleiben. Wattenscheid sollte in dieser Liste der 396 nicht mehr auftauchen, weil es mit dem „Gesetz zur Neugliederung der Gemeinden und Kreise des Neugliederungsraums Ruhrgebiet“ vom 9. Juli 1974 dem großen Nachbarn Bochum zugeschlagen wurde. Die mit damals 80.000 Einwohnern größte der vielen geschluckten Städte und Gemeinden in NRW sollte vom 1. Januar 1975 an nur noch ein Teil von Bochum sein.
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Und das brachte die ganze Stadt in Aufruhr. 96,4 Prozent der wahlberechtigten Wattenscheider stimmten in einer stadtweiten Umfrage für die Eigenständigkeit. Deutlicher geht es nicht. Sie gingen auf die Straße, sie protestierten mit allen möglichen Mitteln. Eine Stadt mit prosperierender Wirtschaft, mit starken Unternehmen und mit einer ausgeprägten Identität sollte mir nichts, dir nichts einfach dem rivalisierenden Nachbarn zugeordnet werden. „Nein“, sagten die meisten Wattenscheider. Und gingen auf die Barrikaden.
„Hände weg von Wattenscheid“ war einer der Slogans, mit denen sich die stolze Stadt zu wehren suchte. Zwei Jahre lang, von Mitte 1972, als die „Fusionspläne“ des Landes bekannt wurden, bis Mitte 1974 dauerte der Kampf an. Und er gipfelte am 6. September 1973 in einem legendären Auftritt der Bürgerinitiative (BI) Selbstständiges Wattenscheid im Düsseldorfer Landtag.
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Wattenscheider lassen Flugblätter im Plenarsaal des Landtags segeln
Als NRW-Innenminister Willi Weyer ans Rednerpult trat, segelten Flugblätter in den Plenarsaal, die Wattenscheid-Aktivisten auf Geheiß von Unternehmer Klaus Steilmann geworfen hatten. Umstimmen ließen sich die Gebietsreformer damit nicht.
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Auch der zweite Befreiungsschlag sollte scheitern. Die aus der BI hervorgegangene Aktion Bürgerwille initiierte das erste Volksbegehren in NRW überhaupt, um die Selbständigkeit der Wattenscheider und vieler kleiner Kommunen im Land zu bewahren. Insgesamt 720.000 Menschen trugen sich in die Listen ein. Am Ende zu wenige, um etwas zu bewirken.
Verfassungsgerichtshof lehnt Wattenscheider Klage ab
Auch der Gang vor den Kadi sollte nichts helfen. Die Verfassungsbeschwerde Wattenscheids gegen die Eingemeindung lehnte der Verfassungsgerichtshof NRW am 13. Februar 1976 ab, ebenso einen Wiederaufnahmeantrag im gleichen Jahr. „Das war niederschmetternd“, so Jost Benfer, einer der Aktivisten von damals, Jahre später im Gespräch mit dieser Redaktion. In einigen Büchern hat der Wattenscheider den Kampf für die Unabhängigkeit seiner Stadt dokumentiert. Gewinnen konnten er und seine Mitstreiter ihn nicht.
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50 Jahre später tickt das Herz von Wattenscheid aber offenbar immer noch kräftig und für jeden sichtbar. Seit der Wiedereinführung Ende 2012 haben sich mehr als 15.000 Halterinnen und Halter für das Autokennzeichen mit dem „WAT“ entschieden. Das ist ein Bekenntnis.
Klaus Steilmann hätte dieses Bekenntnis vermutlich auch abgegeben, wenn der 2009 verstorbene „Boss“ noch die Chance dazu gehabt hätte. Seinen Protest gegen die Eingemeindung hat der Unternehmer in den 70er jedenfalls demonstrativ auch über das Kfz-Kennzeichen ausgedrückt. Er meldete seine Fahrzeuge nur noch in der Nachbarstadt Essen an.