Bochum. Vor 50 Jahren wurden erste Weichen zur Neugliederung des Ruhrgebiets gestellt. Wattenscheid wurde zu Bochum – das ruft bis heute Protest hervor.

Per reitendem Boten erreichte die Stadt Bochum am 18. Oktober 1972 ein zehnfach ausgefertigtes Schreiben, das es in sich hatte: Es enthielt zwei Vorschläge des nordrhein-westfälischen Innenministers Willi Weyer zur kommunalen Neugliederung des Ruhrgebiets, in denen Bochum jeweils eine Schlüsselrolle spielte. „Wir werden die Vorschläge sorgfältig prüfen“, war laut Bochumer WAZ von vor 50 Jahren die lakonische Reaktion aus dem Rathaus. Doch worum ging es damals genau?

Weyer legte der Öffentlichkeit in seinem Papier zwei Konzepte zur Neugliederung des Ruhrgebietes vor. Vorschlag eins: Bochum wird zu einer von acht kreisfreien Städten des Ruhrgebiets mit einer Einwohnerzahl von knapp 630.000 durch die Eingemeindung von Herne, Wanne-Eickel und Wattenscheid. Vorschlag zwei: Es entsteht der „Städteverband Bochum“. Dieser hätte auf einer Gesamtfläche von rund 850 Quadratkilometern knapp 1,2 Millionen Einwohner gehabt. Dem Bochumer Gebiet hinzugefügt werden sollten dieser Variante nach die Städte Wattenscheid, Wanne-Eickel, Herne, Recklinghausen, Herten, Datteln, Marl, Witten und Hattingen.

Ein Foto der Auszählung der Bürgerbefragung 1972.
Ein Foto der Auszählung der Bürgerbefragung 1972. © Stadt Bochum, Presseamt | Fotograf Fotografen der Stadt Bochum

Die Städte sollten dabei „größtmögliche kommunale Selbstständigkeit“ behalten, allerdings verschiedene Kompetenzen an den Städteverband abgeben. Auf den Verband übergehen sollte unter anderem die Stadtentwicklungsplanung mit Bebauungs- und Flächennutzungsplänen, die Zuständigkeit für Freizeitzentren, Stadien, Sportzentren, Krankenhäuser, Datenverarbeitung, Müllbeseitigung, Theater- und Konzertwesen, den öffentlichen Nahverkehr, Gesundheitsämter, Straßenverkehrsbehörden und Berufsschulen.

Rat stimmt für Stadtmodell und fordert weitere Gebietszugewinne im Süden

Der Aufschrei der betroffenen Städte im Ruhrgebiet war riesig. In vielen kleineren Kommunen, die für die Eingemeindung in größere Nachbarstädte vorgesehen waren, regten sich Proteste gegen die Planungen. Bedroht sahen sich unter anderem Gladbeck und Kirchhellen von Bottrop, Kettwig von Essen, Rheinhausen von Duisburg, Hohenlimburg von Hagen, Castrop-Rauxel von Dortmund sowie Wanne-Eickel und Wattenscheid von Bochum.

Wattenscheid- Eingemeindung und Klage

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    In vielen Städten gründeten sich Protestinitiativen, wurden Bürgerbefragungen zur Neuordnung des Ruhrgebiets gestartet. In Wattenscheid sprachen sich im Oktober 1972 mehr als 96 Prozent der Bürgerinnen und Bürger bei einer Befragung für den Erhalt der Selbstständigkeit aus. Der Bochumer Rat hingegen kündigt am 27. Dezember 1972 an, das von vielen als eine Art Kompromiss angesehene Städteverbandsmodell ablehnen zu wollen. Stattdessen stimmt er am 8. Januar 1973 für das Stadtmodell.

    Darüber hinaus fordern die Bochumer Politiker, das Bochumer Gebiet auch in diesem Modell nicht nur nach Norden und Westen, sondern ebenfalls Richtung Süden auszudehnen. Neben Herne, Wanne-Eickel und Wattenscheid sollen auch Witten und der nördliche Teil des Ennepe-Ruhr-Kreises dem Bochumer Stadtgebiet hinzugefügt werden.

    „Eine Eingemeindung widerspricht dem öffentlichen Wohl“

    In den betroffenen Gemeinden kommt das meist nicht gut an. Am 25. Januar lehnt der Wattenscheider Rat die Vorschläge erneut ab. „Eine Eingemeindung der Stadt Wattenscheid nach Bochum widerspricht dem öffentlichen Wohl und ist deshalb rechtswidrig“, heißt es im Ratsbeschluss. „Leistungskraft und Verwaltungseffizienz der Stadt Wattenscheid haben in der Vergangenheit die bestmögliche Versorgung der Bevölkerung gewährleistet und sichern auch für die Zukunft eine umfassende Daseinsvorsorge. Eine Eingemeindung von Wattenscheid nach Bochum bringt den Bürgern dieser Stadt keine Vorteile, sie hätte vielmehr zu Folge, dass die dynamische Entwicklung der Stadt Wattenscheid abgebrochen wird.“

    Auch auf diesem Schild wird der Protest gegen die Eingemeindung protestiert.
    Auch auf diesem Schild wird der Protest gegen die Eingemeindung protestiert. © Stadt Bochum | Mitarbeiter der Stadt Bochum

    Auch in Bochum betonen damals hochrangige Verantwortliche, dass das Stadtmodell für sie nur die zweitbeste Lösung darstellt. Oberstadtdirektor Dr. Gerhard Petschelt sowie der SPD-Fraktionsvorsitzende und spätere Bochumer Oberbürgermeister Heinz Eikelbeck sprechen sich öffentlich für einen das ganze Ruhrgebiet umspannenden Kommunalverband aus. Der allerdings steht damals nicht zur Wahl. Für die Stellungnahme habe man sich deshalb zwischen den beiden vorgeschlagenen Modellen entscheiden müssen.

    Am 1. Januar 1975 werden Bochum und Wattenscheid zusammengelegt

    Am Ende wird keins der beiden Modelle umgesetzt, aus Bochum wird keine Millionenstadt. Stattdessen setzt der Landtag ein modifiziertes Städte- und Kreismodell (mit weniger Eingemeindungen als ursprünglich vorgesehen) um. Der einzige Städte-Zusammenschluss, der dabei – unter großem Protest – umgesetzt wird, ist der von Bochum und Wattenscheid. Endgültig beschlossen wird er vom NRW-Landtag am 8. Mai 1974. Offiziell zur Stadt Bochum zusammengelegt werden die beiden Städte am 1. Januar 1975.

    Das ändert sich

    Das „Gesetz zur Neugliederung der Gemeinden und Kreise des Neugliederungsraumes Ruhrgebiet“ (Ruhrgebiet-Gesetz) ersetzt am 9. Juli 1974 die Überlegungen zu Städte- oder Städteverbandsmodell. Es sieht deutlich weniger Eingemeindungen vor als die ursprünglichen Vorschläge und tritt zum 1. Januar 1975 in Kraft.

    Neben der Eingemeindung Wattenscheids nach Bochum werden noch weitere Städte und Gemeinden zusammengelegt. So fusionieren unter anderem die kreisfreien Städte Herne und Wanne-Eickel zur neuen Stadt Herne.

    Die Stadt Herbede wird nach Witten eingemeindet. Zudem wird die Stadt Witten zu einer Gemeinde des Ennepe-Ruhr-Kreises.

    Die Städte Recklinghausen und Castrop-Rauxel, später auch Gladbeck, werden in den Kreis Recklinghausen eingegliedert.

    Die Städte Homberg, Rheinhausen und Walsum sowie die Gemeinde Rumeln-Kaldenhausen werden mit Duisburg vereinigt.

    Die Stadt Dortmund wird, entgegen den ursprünglichen Plänen, nur wenig vergrößert. Ergänzt wird sie um Teile der Gemeinden Holzen, Lichtendorf und Westhofen, die sich nordwestlich der B1 befinden.

    Doch wie weit ist die Integration Wattenscheid heute, nach beinahe 50 Jahren Zusammengehörigkeit, fortgeschritten? Die Stadt Bochum möchte sich zu dieser Frage nicht äußern. Eine klare Meinung hat die Unabhängige Wähler-Gemeinschaft (UWG), die sich seit ihrer Gründung 1969 für die Eigenständigkeit Wattenscheids einsetzt.

    Auch zu Karneval war die Eingliederung Wattenscheids ein Thema.
    Auch zu Karneval war die Eingliederung Wattenscheids ein Thema. © Stadt Bochum | Mitarbeiter der Stadt Bochum

    „Der Landtagsbeschluss von 1972 sah vor, die Städte Bochum und Wattenscheid zur ‚neuen Stadt Bochum‘ zusammenzuschließen. Von einer Eingemeindung Wattenscheids nach Bochum war keine Rede. Insoweit kann und konnte eine Integration nicht wirklich stattfinden“, sagt der UWG-Vorsitzende Josef Winkler. „16.000 WAT-Kennzeichen sprechen für sich. Interessant und bemerkenswert ist auch, dass die nachfolgenden Generationen sich auch als Wattenscheiderinnen und Wattenscheider fühlen.“

    War die Eingemeindung am Ende ein Fehler? Auch hierzu möchte die Stadt Bochum nicht Stellung beziehen. Josef Winkler findet: „Die Städte und Gemeinden des Ruhrgebietes hätten zu einem Ruhrkreis zusammengeführt werden müssen. Das wäre wichtig für die Außenwirkung der Region und zielführender gewesen, sowohl national wie international, und hätte dem Ruhrgebiet eine völlig andere Schlagkraft verliehen. Die Bürgerinnen und Bürger hätten ihre Identität behalten.“