Bochum-Wattenscheid. Lange wehrten sich die bis 1974 kreisfreie Stadt und ihre Bürger gegen die Eingemeindung. Empörung und Enttäuschung sind bis heute groß.
Die Welle schwappte zum ersten Mal am 30. Mai 1972 über. Tausende Wattenscheider demonstrierten vor ihrem Rathaus entschlossen Einigkeit und Eigenständigkeit. Sie wehrten sich gegen die Gebietsreform in Nordrhein-Westfalen, an deren Ende von 2356 Gemeinden nur noch 396 übrig bleiben sollten. Wattenscheid war nicht darunter. Wattenscheid, die mit 80.000 Einwohnern größte der vielen geschluckten Städte in NRW, gehört seit dem 1. Januar 1975 zu Bochum.
Zweieinhalb Jahre zuvor waren viele in der Stadt, die heute nur noch ein Stadtteil ist, überzeugt, sich dem erfolgreich entgegenstellen zu können. Am 8. Juni 1972 marschierte ein Demonstrationszug Richtung Bochumer Rathaus. „Hände weg von Wattenscheid!“ skandierten die Demonstranten. Der Kampf hatte begonnen.
Bürgerinitiative „Selbstständiges Wattenscheid“
Tage zuvor hatte sich die Bürgerinitiative „Selbstständiges Wattenscheid“ gegründet. „An der Spitze standen hoch angesehene Bürger“, sagt Jost Benfer (77), Mitstreiter und Autor einiger Bücher über die Geschehnisse von damals.
Textil-Unternehmer Klaus Steilmann gehörte zu den tragenden Kräften, ebenso wie Rechtsanwalt Klaus Brammen und Realschuldirektor Franz-Werner Bröker.
Seine Schüler halfen mit, die Bögen einer Umfrage stadtweit zu verteilen. Im Herbst lag das überwältigende Ergebnis vor: 54.674 wahlberechtigte Wattenscheider – 93,8 Prozent – hatten teilgenommen. 96,4 Prozent stimmten für die Eigenständigkeit.
Kettwig und Rheinhausen, Herne und Wanne-Eickel
Helfen sollte das nicht. Trotz dieser und vieler anderer Anstrengungen. „Wattenscheid war das Zentrum eines landesweiten Aufstandes“, erinnert sich Jost Benfer.
Wattenscheid wird eingemeindet
Viele Städte wehrten sich: Hohenlimburg, Kettwig, Rheinhausen. Vergeblich. Andere retteten sich. Wie Herne und Wanne-Eickel, die auch dem Oberzentrum Bochum zugeschlagen werden sollten, sich aber zusammentaten und so allein die geforderte Mindestgröße von 200.000 Einwohnern erreichten. Wattenscheid wurde geschluckt.
„Befürchtung, dass aus einer Stadt ein Vorort wird“
„Unsere Befürchtung war, dass aus einer Stadt ein Vorort wird, der seine Identität und Eigenständigkeit verliert“, erinnert sich Jost Benfer.
Dabei hatte die Stadt mit klugen Ansiedlungen auf das Ende der Zechen-Ära reagiert. Wirtschaftlich war sie gewappnet. Politisch und verwaltungstechnisch wurde sie überrollt.
Männer wie Jost Benfer, der damals als Polizeibeamter Nachwuchskräften Unterricht in staatspolitischer Bildung gab, und viele andere wehrten sich. „Nach Dienstschluss habe ich im BI-Büro gearbeitet, das bei Steilmann eingerichtet war.“
Doch Engagement alleine reichte nicht. Die aus der BI hervorgegangene „Aktion Bürgerwille“ sammelte mehrere Hunderttausende DM, um ihren Kampf zu finanzieren. 82.000 Mark allein bewilligte der Wattenscheider Rat. Bezahlt wurde damit der Kampf um die Eigenständigkeit.
„Fieses Spiel“: ein Volksbegehren mitten im Karneval
Den hatte zuvor schon die BI Wattenscheid am 6. September 1973 mit einer spektakulären Aktion auf die Spitze getrieben: Im Düsseldorfer Landtag regnete es Flugblätter von der Besuchertribüne: Hände weg von Wattenscheid. „Als Willi Weyer (Anm. d. Red.: damals NRW-Innenminister) vor das Rednerpult trat, da gab Klaus Steilmann das Zeichen und wir warfen die Flugblätter in den Plenarsaal. Jeder kann sich denken, was da los war. Es wurde gerufen, Idioten, Blödmänner, wie das so ist in solchen Situationen. Da verlieren auch Landtagsabgeordnete die Contenance.“
Auch interessant
Aus Sicht von Jost Benfer war es der „Höhepunkt des Wattenscheider Widerstandes“.
Und der sollte weitergehen. Die Aktion Bürgerwille initiierte das erste Volksbegehren in NRW, um die Selbständigkeit zahlreicher kleinerer Kommunen zu bewahren. 720.000 Menschen im Land trugen sich zwischen dem 16. Januar und dem 12. Februar 1974 in die Listen ein.
Viele, sehr viele. Aber doch zu wenig, nämlich sechs statt der geforderten 20 Prozent aller Stimmberechtigten. Das Land hatte das Volksbegehren mitten in die Karnevalszeit gelegt. Ein taktischer Schachzug. Benfer: „Das war ein fieses, abgekartetes Spiel.“
Tausende fahren mit Kennzeichen „WAT“
Einen Trost hat es seitdem gegeben: das Recht auf das alte Autokennzeichen. Als es 40 Jahre nach Ankündigung der Gebietsreform am 14. November 2012 wieder eingeführt wurde, war Benfer einer der ersten, der es beantragt hat. So wie bis heute Tausende Wattenscheider auch.
„WAT“ steht geradezu trotzig auf ihren Nummernschildern. Jost Benfer weiß, dass sich die Uhr nicht zurückdrehen lässt. Aber noch heute ist er fest davon überzeugt, die Eingemeindung war falsch.
>> Multimedia-Chronik: Bochum von 1948 bis 2018
Dieser Artikel ist Teil des Projektes „70 Jahre WAZ – 70 Jahre Bochum“. Unser Zeitstrahl Bochum70.waz.de bietet zu Nachrichten und Ereignissen, die für Bochum(er) zwischen 1948 und 2018 wichtig waren, historische Filmaufnahmen, Fotos und die alten WAZ-Zeitungsseiten zum Durchblättern. Auf dem Spezial können Sie auch eigene Bochumer Stadtgeschichten und Fotos hochladen. Das erste Jahresthema der Multimedia-Chronik: die Gründung der WAZ in Bochum im Jahr 1948.