Bochum. Viele Wattenscheider fühlen sich abends in der City unsicher. Dabei gibt es eher weniger als mehr Straftaten. Woher kommt dieser Widerspruch?
Wie unsicher ist die Wattenscheider Innenstadt wirklich? Können die Menschen abends noch unbesorgt über die Straße gehen? Die CDU scheint da skeptisch zu sein. Und auch eine WAZ-Umfrage in der Wattenscheider City offenbart viele Ängste unter den Menschen. Gleichzeitig sind die Fallzahlen bei der Straßenkriminalität in Wattenscheid aber im vorigen Jahr mit 1224 gemeldeten Taten auf den tiefsten Stand seit fünf Jahren gesunken. „In der Wattenscheider Innenstadt treten Straftaten nicht häufiger auf, als in anderen Stadtteilen“, sagt die Polizei. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?
„Die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden, ist deutlich niedriger, als wir das annehmen“
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Der Kriminologe Prof. Thomas Feltes (73) von der Ruhr-Universität hat sich mit diesem Phänomen schon länger intensiv auseinandergesetzt. Er sagt, dass die Bochumer dazu „neigen, das Ausmaß der Kriminalität und vor allem ihr eigenes Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, deutlich zu überschätzen“. Und weiter: „Die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden, ist in vielen Bereichen deutlich niedriger, als wir das annehmen.“
Die CDU hatte vor kurzem ihre tiefe Sorge über die Kriminalität in Wattenscheid betont: „Die zunehmende Verschlechterung der Sicherheitslage ist alarmierend. Wir müssen dringend Maßnahmen ergreifen, um das Wohl unserer Bürger zu gewährleisten.“ Stefan Klapperich, Vorsitzender des CDU-Ortsverbandes Wattenscheid-Mitte, stellte fest, dass viele Bürger in den Abendstunden aus Angst die Innenstadt mieden. Dies sei ein unhaltbarer Zustand, der sofortiges Handeln erfordere. Die Christdemokraten fordern mehr Polizeipräsenz und Videoüberwachung, um die Sicherheit zu erhöhen.
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„Hier laufen schon mehr Bekloppte herum als früher“, stellte ein Passant (55) fest, als die WAZ ihn an einem Novemberabend in der City zu dem Thema befragte. „Und die Jugend ist echt frech.“ Er selber habe zwar keine Angst. „Doch man hört so einiges.“
Eine Mitarbeiterin in einem Geschäft sagt, dass sie abends nicht mehr in die Stadt gehe. „Da werde ich nur blöd angemacht.“ Das sieht ihre Kollegin auch so. „Würde ich hier nicht arbeiten, würde ich mich gar nicht hier aufhalten.“ Ihr Mann hole sie nach Feierabend immer ab. „Der lässt mich hier nicht alleine herlaufen.“
Wattenscheiderin: „Die Atmosphäre ist aggressiver geworden“
Eine weitere Passantin: „Die Atmosphäre ist aggressiver geworden.“ Wieder eine andere: „Natürlich ist es schlimmer geworden, richtig asozial. Man kann nicht mehr vom ,Bebel‘ bis zum Kaufland laufen, ohne belästigt zu werden. Gerade eben noch bin ich von jemandem verfolgt worden. Man fühlt sich in der Wattenscheider Innenstadt nicht mehr sicher, als Frau ohnehin nicht.“
Prof. Feltes kennt solche Ängste und Äußerungen aus Studien. Grundsätzlich, unabhängig von Wattenscheid, sagt er: „Die subjektive Kriminalitätsfurcht und die dazugehörige objektive Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden, klaffen weit auseinander.“ Insbesondere Frauen und alte Menschen würden „ein überhöhtes Maß an Kriminalitätsfurcht“ aufweisen, das unter anderem auf Unterschiede in der physischen und psychischen Verletzbarkeit zurückgeführt werden könne.
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Feltes nennt mögliche Gründe für die Verschlechterung der „gefühlten Sicherheit“. Zum Beispiel die (sozialen) Medien: „Wir wissen, dass diejenigen, die sich häufiger private Nachrichtensendungen ansehen oder Boulevardzeitungen lesen, mehr Furcht äußern, strafhärter eingestellt sind und einen stärkeren Anstieg der Kriminalität wahrnehmen. Die regelmäßigen politischen Verkündungen, alles gegen ,die Kriminalität‘ zu tun, verunsichern die Menschen zusätzlich.“
Kriminologe: Allgemeine Zukunftsangst wird in Angst vor Kriminalität verwandelt
Die Angst davor, Opfer zu werden, spiegele weniger konkrete Bedrohungen, sondern eher allgemeine gesellschaftliche Ängste und Verunsicherungen wider, sagt Feltes und nennt zum Beispiel einen steigenden ökonomischen Druck und eine generelle Zukunftsangst: Angst vor Krankheit, Armut im Alter, vor den Auswirkungen der Globalisierung, vor Flüchtlingen. „Diese Ängste fokussieren sich auf Kriminalität und damit auf ,die Kriminellen‘, die zunehmend als Ausländer und Migranten ,identifiziert‘ werden.“
Außerdem: „Menschen, die das Gefühl haben – aus welchem Grund auch immer – abgehängt zu sein und gesellschaftliche Entwicklungen nicht verstehen, sind grundlegend verunsichert. Angst vor Kriminalität zu haben und diese zu überschätzen, ist dann ein Ventil, weil diese Angst im Vergleich zu den anderen Ängsten greifbar und personalisierbar ist.“ Hinzu komme eine zunehmende Vereinsamung in der Gesellschaft, vor allem bei alten Menschen. „Alleinsein macht Angst, führt zu Rückzug und verstärkt damit latente Unsicherheiten.“
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Die Politik trage dazu bei, indem sie in regelmäßigen Abständen „neues Bedrohungspotenzial“ definiere: „Nach den kriminellen Migranten waren es Rocker und zuletzt Clanmitglieder.“ Jegliche Differenzierung werde dabei unterlassen, sodass auch bei den Bürgern der Eindruck einer Bedrohung durch bestimmte Bevölkerungsgruppen entstehe.
Feltes sieht auf anderen Gebieten in unserer Gesellschaft eine viel höhere Gefahr: „Auch wenn die tatsächlichen gesellschaftlichen und finanziellen Schäden, die beispielsweise durch organisierte Bankenkriminalität, organisierte Manipulation von Dieselmotoren, sexuellen Missbrauch von Kindern oder schlichtweg durch überhöhte Geschwindigkeit auf unseren Straßen entstehen, um ein Vielfaches höher sind als die durch ,herkömmliche‘ Kriminalität verursachten, fokussieren wir uns immer wieder auf die von Politik und Medien gelieferten Sündenböcke.“
Professor: Polizei muss mehr Präsenz in der Nachbarschaft zeigen
Trotz dieser Kritik mahnt Feltes die Polizei, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen. „Raus aus den Autos“, ruft er den Streifenbeamten zu, die durch die Straßen fahren. „Mit den Leuten reden, mal eine halbe Stunde.“ Das aber sei „ungewohnt für die Polizei“. „Das einzige, das uns hilft, ist, in der Nachbarschaft präsent zu sein, alles andere nützt nichts.“ (mit kpo und noe)