Bochum. Um die 1000 Kinder und Jugendliche in Bochum wachsen in Heimen oder Pflegefamilien auf. Worauf kommt es dabei an? Einblicke in zwei Wohngruppen.

Der Weihnachtsbaum im Gemeinschafts-Wohnzimmer ist schon geschmückt. Wer hier am Heiligabend gemeinsam feiert, ist noch offen. Alle dürfen, niemand muss. Acht Jugendliche zwischen 16 und 20 Jahren leben an der Mauritiusstraße nahe der Bochumer Innenstadt in einer besonderen Wohngemeinschaft mit fünf Zimmern, einem Einzel- und einem Zweier-Appartment. „IMOB“ heißt die, kurz für: Individuelle Mobile Betreuung. Die acht sind acht von rund 1000 jungen Menschen, die in Bochum nicht in ihrer Familie erwachsen werden, sondern in einer Einrichtung der Jugendhilfe.

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  • Landesweit ist die Zahl der jungen Menschen, die in Heimen, Wohngruppen oder Pflegefamilien aufwachsen, im vergangenen Jahr erstmals seit 2017 wieder gestiegen – in Bochum ist dieser Trend nicht festzustellen. Ein Blick in die Zahlen.

„Hier wohnen Jugendliche, die in normalen Wohngruppen nicht gut klarkommen“, erklärt Michelle Stanke, die Einrichtungsleiterin. Die 30-Jährige spricht von „Jugendlichen mit großem Autonomiebedürfnis“: solchen, die bei zu vielen Regeln abblocken oder rebellieren würden und die auf ein soziales und selbstständiges Erwachsenenleben vorbereitet werden sollen. Jede und jeder hat ein eigenes Zimmer mit eigenem Kühlschrank, es gibt eine Gemeinschaftsküche mit Putzplan; alle versorgen sich selbstständig – bekommen bei all dem aber Unterstützung. „Wir begleiten das“, sagt Stanke.

Für manche ist die betreute WG die erste Station nach der Jugendhaft

Die Geschichten der Bewohnenden sind ganz unterschiedlich, mitunter dramatisch. Manch einer kommt direkt aus einer Schutzstelle dorthin, weil er bei den eigenen Eltern nicht mehr sicher wäre, bringt schwere traumatische Erfahrungen mit. Für andere ist die „IMOB“ erste Station in Freiheit nach längerer Jugendhaft. Wieder andere wechseln aus einem Wohnheim in die WG. „Es ist eine bunte Tüte von allem“, sagt Michelle Stanke. Ihr und ihrem Team gehe es darum, die Bewohner „Richtung Verselbständigung“ zu bringen. Und auch darum: „Wir versuchen, ihnen ein bisschen ein Gefühl von Zuhause zu geben.“

Stiftung Overdyck Wohngruppen Kinderheim
Szene aus einer Wohngruppen der Evangelischen Stiftung Overdyck: Ein Betreuer „kickert“ mit einem Bewohner. Zum Schutz ist der Jugendliche nicht erkennbar. © Ev. Stiftung Overdyck

Die „IMOB“ ist nur eine von mehreren Dutzend unterschiedlichen Jugendhilfe-Einrichtungen der Evangelischen Stiftung Overdyck in Bochum. Der Bedarf an Angeboten wie diesem ist enorm. Michelle Stanke merkt das an den vielen, vielen Anfragen, die sie für Plätze bekommt – selbst aus Cuxhaven wurde sie schon kontaktiert. Dabei ist die „IMOB“ auch mit Jugendlichen aus Bochum gut ausgelastet.

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Wohngruppe „Aurora“ in Bochum: Lange Warteliste

Ortswechsel: Zwei Parallelstraßen und nur ein paar Hundert Meter Luftlinie entfernt bietet Overdyck im Haus „Aurora“ in der Alsenstraße seit knapp zwölf Jahren Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen eine Heimstatt. Sieben Plätze gibt es, auch sie sind alle belegt, die Warteliste ist lang. „Wir müssen ganz viele Anfragen ablehnen“, sagt Teamleiter Peter Schneider, „weil die Jugendlichen nicht zu den anderen Bewohnern oder zu uns passen.“

Stefan Wutzke

„Kinder und Jugendliche können nie etwas dafür, dass sie ins Heim kommen.“

Stefan Wutzke, Geschäftsführer der Evangelischen Stiftung Overdyck

Tendenziell seien es mehr Mädchen, die bei „Aurora“ unterkommen, aktuell ist die Bewohnerschaft komplett weiblich. Wer hier hinkommt, hat oftmals Depressionen, aber auch soziale Phobien oder Schulvermeidung seien Probleme, die sie mitbrächten. „Kinder und Jugendliche können nie etwas dafür, dass sie ins Heim kommen“, betont Stefan Wutzke, Geschäftsführer der Stiftung Overdyck. „Und hier ist es so, dass auch die Eltern nichts dafür können.“

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Jeden Tag ein gemeinsames Abendessen in der Bochumer Wohngruppe

„Unser Ziel“, sagt Peter Schneider, „ist, dass wir die jungen Leute lebensfroher und optimistischer entlassen, als sie zu uns gekommen sind.“ Betreuerin Kristin Schade ergänzt: „Sie sollen groß werden und lernen, auf eigenen Füßen zu stehen.“

Wohngruppen Stiftung Overdyck
Blick ins Wohn- und Esszimmer der Wohngruppe "Aurora" in Bochum: Jeden Abend essen die jungen Frauen dort zusammen. © WAZ Bochum | Sarah Kähler

Wo die „IMOB“ auf Autonomie setzt, bietet „Aurora“ deutlich mehr Strukturen: Jeden Abend essen die Bewohnerinnen gemeinsam mit den Betreuern, am Wochenende kochen sie auch zusammen. Wer das Wohn- und Esszimmer betrachtet, könnte auch in einem beliebigen Einfamilienhaus zu Gast sein. Ein großer Holztisch steht auf der einen Seite, Ecksofa und Fernseher auf der anderen. Ein angefangenes Puzzle liegt auf dem Couchtisch.

Stiftung Overdyck Wohngruppen
Couch, Puzzle, Kuscheltiere: In der Wohngruppe "Aurora" geht es familiär zu. Jede Bewohnerin hat aber auch ihren Rückzugsbereich. © WAZ Bochum | Sarah Kähler

Sieht familiär aus – ist und bleibt aber eine Einrichtung

„Das sieht familiär aus“, sagt Overdyck-Geschäftsführer Stefan Wutzke, „bleibt aber immer noch eine Einrichtung.“ Die Schilder zu den Notausgängen und der Feuerlöscher im Flur verraten das. Das „Aurora“-Team kooperiert eng mit der Valeara-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Alle zwei Wochen kommen Ärzte zur Visite in die Wohngruppe.

Es ist eine Balance zwischen Nähe und professioneller Distanz, die Peter Schneider seit fast zwölf Jahren in der Einrichtung hält. Ihm sei es wichtig, eine Beziehung zu den Jugendlichen aufzubauen, sagt er. „Im besten Fall bleiben sie einige Jahre, bis sie so fit sind, dass sie sich vorstellen können, selbständig zu leben.“

Älteste Diakonie-Einrichtung in Bochum

Graf Adalbert von der Recke-Volmerstein gründete am Rittersitz Haus Overdyck in Bochum-Hamme 1819 ein Waisenheim für Straßenkinder – der Anfang des sozialen Engagements, das bis heute in der Evangelischen Stiftung Overdyck in Bochum fortgeführt wird. Die Stiftung ist der größte Kinder- und Jugendhilfe-Träger in Bochum und Teil der Diakonie-Ruhr. Sie ist nach Angaben von Geschäftsführer Stefan Wutzke die älteste diakonische Einrichtung der Stadt.

Overdyck ist dezentral organisiert und betreibt rund 25 Standorte in und um Bochum: Wohngruppen für Kinder und für Jugendliche unterschiedlicher Altersgruppen, betreutes Wohnen, Notschlafstellen und Schutzstellen beispielsweise. Außerdem kümmert sich die Stiftung um die Betreuung in Pflegefamilien und bietet verschiedene ambulante Hilfs- und Beratungsangebote für Kinder, Jugendliche und Familien. Rund 300 Kinder und Jugendliche leben in Overdyck-Einrichtungen.

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