Mülheim. Heute kommen Ukrainer als Kriegsflüchtlinge nach Mülheim, vor 80 Jahren als Zwangsarbeiter. Ein Blick zurück auf ein düsteres Kapitel der Stadt.
Heute kommen Ukrainer als Kriegsflüchtlinge in die Stadt, vor rund 80 Jahren wurden sie als Zwangsarbeiter des Hitlerschen Nazi-Regimes in die Ruhrstadt gebracht. Vor 20 Jahren kam es zu einem bewegenden Wiedersehen.
60 Jahre, nachdem sie als Jugendliche in Mülheim unfreiwillig Zwangsarbeit hatten leisten müssen, besuchten 16 Frauen und Männer aus der Ukraine auf Einladung des damaligen Oberbürgermeisters Jens Baganz und des Evangelischen Krankenhauses die Stadt an der Ruhr.
Zwangsarbeiter aus der Ukraine erlitten in Mülheim schweres Leid
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Obwohl sie schmerzliche Erinnerungen mit Mülheim verbanden, zeigten sich die Gäste aus der Ukraine, die unsere Stadt für jeweils eine Woche im Frühjahr und im Herbst 2002 besuchten, versöhnlich und erfreut über den freundlichen und menschlich herzlichen Empfang durch die Menschen der „schönen wiederaufgebauten und grünen“ Stadt, in der sie einst gelitten hatten.
Zwölf-Stunden-Arbeitstage unter polizeilicher Aufsicht und Sprechverbot, Stockhiebe für zu spätes Aufstehen am Morgen, Hunger und Krankheit in Barackenlagern, nicht ungefährliche Arbeitseinsätze bei der Trümmerbeseitigung, die Hinrichtung von Leidensgenossen, die Lebensmittel „gestohlen hatten“, Leidensgenossen, die an Krankheit und Entkräftung starben und unter anderem auf dem Alten Friedhof an der Dimbeck beigesetzt wurden, oder das Verbot, während eines Bombenangriffes öffentliche Luftschutzräume aufzusuchen: Das waren die schlechten Erinnerungen, von denen die Senioren aus der Ukraine 2002 berichteten.
Zwangsarbeiter arbeiteten in Mülheimer für den deutschen Krieg gegen ihre Heimat
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Aber die Frauen und Männer aus der Ukraine, die als ehemalige Sowjetrepublik der 1990 untergegangenen UdSSR seit 1991 ein unabhängiger, heute aber akut bedrohter Staat ist, konnten auch über deutsche Kollegen und Vorgesetzte berichten, die sich über die Verbote des NS-Regimes hinwegsetzten und ihren unfreiwilligen Kollegen Lebensmittel und in Bombennächten einen Platz im Luftschutzbunker besorgten.
Auch die im Evangelischen Krankenhaus eingesetzten Zwangsarbeiter berichteten von guter Behandlung und gutem Essen. Doch sie sprachen auch von der traumatischen Erfahrung, zum Beispiel im Styrumer Thyssenwerk, im Speldorfer Reichsbahnausbesserungswerk und in der Friedrich-Wilhelms-Hütte für die deutsche Rüstung und damit für die Fortsetzung des deutschen Angriffskrieges auf ihre Heimat gearbeitet haben zu müssen.
Stalin ließ die Zwangsarbeiter als „Vaterlandsverräter“ erneut verschleppen
Was ihre Mülheimer Gastgeber 2002 besonders berührte, war das Schicksal der ukrainischen Zwangsarbeiter, das sie nach der Rückkehr in ihre Heimat ereilte: die Verschleppung in sibirische Zwangsarbeitslager, diesmal durch Stalin, der die ins Hitler-Deutschland verschleppten Landsleute als „Vaterlandsverräter“ diffamierte.
Erst unter Gorbatschow erfuhren die ehemaligen ukrainischen und russischen Zwangsarbeiter, von denen knapp 10.000 zwischen 1942 und 1945 in Mülheim schuften und leiden mussten, 1989 eine offizielle Rehabilitierung. Und erst ab 2001 wurde ihnen durch die vom Bundestag beschlossene und auch von Mülheimer Unternehmen mitfinanzierte „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ eine symbolische Wiedergutmachung ausgezahlt: 2600 Euro pro Person.
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