Mülheim. Als eine Ehrenamtliche die Stadt kritisiert, kommt heraus: Die Unterkünfte für Ukraine-Flüchtlinge in Mülheim sind voll. Abhilfe nicht in Sicht.

„Ich bin völlig verzweifelt. Ich brauche für so viele Flüchtlinge eine Unterkunft. Aber ich bekomme einfach keine“, sagt die Mülheimerin Anna Liberzon. Sie wirft der Stadt vor, nicht transparent genug zu kommunizieren. Denn wieso das so ist, kann sich die ehrenamtliche Helferin nicht erklären. Auf Anfrage der Redaktion teilt der Mülheimer Sozialamtsleiter Thomas Konietzka am Donnerstag mit: „Unsere Kapazitäten sind seit Dienstag ausgeschöpft. Es gibt zurzeit keine Unterkünfte mehr.“ Und nun?

Aktuell ist unklar, wie viele Personen aus der Ukraine nach Deutschland flüchten - unter anderem weil keine Grenzkontrollen stattfinden. Erwartet werden Hunderttausende. Bislang registriert sind 80.000 Kriegsflüchtlinge nach Informationen der Tagesschau. Die Dunkelziffer dürfte groß sein. Denn es ist auch fraglich, wie viele noch nicht registriert worden sind. In Mülheim muss Anna Liberzon eine Woche Vorlaufzeit einplanen, um knapp 40 Flüchtlinge anzumelden – und ihre Liste wird immer länger. Genau so wie die Warteschlange vor der Ausländerbehörde in Mülheim.

Mülheimerin hilft Ukraine-Flüchtlingen seit Kriegsbeginn ehrenamtlich

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Anna Liberzon wirkt am Mittwoch aufgelöst und müde zugleich am Telefon. Viele schlaflose Nächte lägen hinter ihr, seitdem sie Flüchtlingen ehrenamtlich hilft. Jeden Tag erreichen sie Dutzende Anrufe, nicht nur von Freunden und Bekannten aus der Ukraine. „Mich flehen auch Menschen um Hilfe an, die ich nicht kenne“, sagt die Mülheimerin, die vor 30 Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland geflohen ist.

Weil die Bedürftigen auf ihrer Liste immer mehr werden, habe sie sich vorübergehend von ihrem Job freistellen lassen. „Es gibt so viel zu tun. Ich will helfen und war lange Dolmetscherin.“ Sie spricht deutsch, russisch und ukrainisch und hilft den Ankömmlingen bei Behördengängen und Arztterminen. Einige Mütter mit Kindern hat sie privat in Mülheim untergebracht. „Aber meine Möglichkeiten sind ausgeschöpft. Zum Teil leben sieben Personen in einem Apartment, das für eine Person ausgelegt ist“, berichtet Liberzon.

Mehrfach habe sie eine Sozialwohnung für die Flüchtlinge beantragen wollen. Doch in den ersten Tagen nach Kriegsbeginn steht nicht fest, welche Ansprüche sie haben. Erst vergangenen Donnerstag einigten sich die EU-Mitgliedsstaaten auf einen gemeinsamen Schutzstatus. Er gilt zunächst für ein Jahr, kann auf drei Jahre verlängert werden und beinhaltet Mindeststandards wie Sozialhilfe und eine Arbeitserlaubnis. „Trotzdem habe ich bisher keine einzige Unterkunft in Mülheim beantragen können“, wirft Liberzon der Stadt Mülheim vor.

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Auf Anfrage der Redaktion teilt die Stadt am Donnerstagvormittag mit, dass derzeit keine Unterkunft mehr zur Verfügung steht. Sozialamtsleiter Thomas Konietzka sagt am Telefon: „Unsere Kapazitäten sind ausgeschöpft. Wir haben seit Dienstag keine Unterkunft mehr für ukrainische Flüchtlinge.“ Ob der ehrenamtlichen Helferin diese Information mitgeteilt worden ist, weiß er nicht. Auf der Stadtseite wird darauf aktuell nicht verwiesen.

„Wir können auf der Webseite keinen Ticker hinzufügen“, sagt Stadtsprecher Volker Wiebels dazu. Derzeit werde für neue Unterkünfte gesorgt. Die Stadt hoffe darauf, dass Anfang nächster Woche einige Holzhäuser an der Mintarder Straße fertiggestellt werden. „Die Flüchtlingsunterkunft wird in Teilen reaktiviert. Da fehlten Möbel und das Sanitärhaus muss neu angeschlossen werden“, erklärt Konietzka. Darüber hinaus warte man auf ein Legionellen-Ergebnis. „Das ist hoffentlich am Montag da. Wenn ein Flüchtling bis dahin keinen privaten Schlafplatz hat, können wir ihn nicht unterbringen.“

Seit Dienstag werden Flüchtlinge deshalb an die Erstaufnahmestelle in Bochum verwiesen. Seit Mittwoch gebe es eine Koordinierungsnummer, über die die Stadt größere Gruppen von Flüchtlingen an andere Kommunen vermitteln kann. Auch städtisch angemietete Sozialwohnungen seien voll. „Die sind zu 78 Prozent belegt und damit ausgeschöpft. 25 Personen aus der Ukraine konnten hier untergebracht werden.“ Manche müssten frei gehalten werden für Brandopfer oder für Corona-Erkrankte, die in Quarantäne müssen. Andere seien nicht vollständig belegt, weil beispielsweise eine vierköpfige Familie in einem Apartment wohnt, das für sechs Personen ausgelegt ist.

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Wenn die Flüchtlingsunterkunft an der Mintarder Straße in der nächsten Woche fertig ist, böte sie Platz für 150 bis 200 Menschen. Eine Idee von Konietzka ist es, 34 Wohnungen von der Wohnungsbaugesellschaft SWB in Mülheim anzumieten. Das wolle er Sozialdezernentin Dr. Daniela Grobe im städtischen Krisenstab vorschlagen. „Wir werden darüber nachdenken müssen, wie wir so schnell wie möglich eine große Anzahl von Unterkünften zur Verfügung stellen können“, sagt der Leiter des Sozialamtes.

Die Stadt stimme zu, dass am Anfang vieles ungeregelt gewesen sei. „Wir mussten auf die Beschlüsse warten und wir haben keine Steuerung“, erklärt Konietzka das Dilemma. Während die Flüchtlinge 2015 erst registriert und dann an die Kommunen verteilt worden sind, würden sie sich heute meist direkt bei der Ausländerbehörde melden. „Das ist kein Problem, was wir lokal lösen können. Wir brauchen Hilfe von Bund und Ländern. Wir tun alles dafür, den Flüchtlingen möglichst schnell zu helfen“, so Stadtsprecher Volker Wiebels.

Sonder-Ratssitzung wegen neuem Beschluss ausgefallen

Die für Donnerstag geplante Sondersitzung des Rates ist entfallen. „Über das Wochenende hat es neue Informationen des Bundesinnenministeriums gegeben, die eine Beschlussfassung des Rates zur Bereitstellung eines finanziellen Erstnothilfe-Budgets für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine überflüssig machen“, heißt es von der Stadt. Dies sei auch in einer Sitzung mit dem Städtetag am Montag deutlich geworden.

Mittlerweile ist geklärt, dass Flüchtlinge aus der Ukraine Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten können. Dazu ist die sogenannte Massenzustromrichtlinie in Kraft getreten. Sie wird zum ersten Mal genutzt, war aber infolge der Kriege im ehemaligen Jugoslawien beschlossen worden und gilt seit 2001 zum temporären Schutz von Flüchtlingen.