Mülheim. Zwei Ukrainerinnen flüchten nach Mülheim, als die ersten Bomben einschlagen und Soldaten vor der Haustür schießen. Sie bangen um Familie in Kiew.

Ihr Leben ist alles, was sie noch haben. In gespendeten Jogginganzügen sitzen Irina Rozhnetskaya und ihre beiden Töchter in einer privaten Unterkunft in Mülheim. Sie können nicht fassen, dass sie nach fünf Tagen endlich in Sicherheit sind. Als der Krieg vor zwei Wochen in Kiew ausbricht, ist es zum Kofferpacken zu spät. Um vier Uhr nachts ruft plötzlich die Großmutter an. „Krieg! Kommt sofort hierhin!“ Das sind die einzigen Worte, die sie durch das Telefon schreit. Im Hintergrund heulen schon die Sirenen und als die erste Bombe explodiert, folgt ein ohrenbetäubender Knall.

In Windeseile schmeißt die Mutter ihre Familie aus dem Bett, schnappt sich Pässe und Haustiere und rennt zum Auto. Sie weiß zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass sie ihren Mann in der Ukraine zurücklassen muss und dass sie ihre Heimat erst einmal nicht wiedersehen wird. So schnell es geht fährt sie zu ihren Eltern, die neben einer U-Bahn-Station wohnen. „Wir wollten uns da für ein paar Tage in Sicherheit bringen. Zur Not hätten wir uns unten im Schacht versteckt“, sagt die 39-Jährige.

Die Soldaten schießen mitten vor der Haustür der ukrainischen Familie

Doch als die Familie am nächsten Tag aus dem Fenster schaut, schießen die Soldaten mitten vor der Haustür auf offener Straße. Der Ukrainerin wird klar: „Wir können hier nicht bleiben. Wir müssen wieder los.“ Aber es geht nicht. In der Zwischenzeit ist eine Ausgangssperre verhängt worden. Mit blankem Entsetzen wartet die Familie. Die Zeit vergeht quälend langsam, die Angst um das eigene Leben wächst Stunde um Stunde.

Als die Ausgangssperre vorbei ist, rennt Irina Rozhenatskaya wieder mit ihren Töchtern, den Pässen und den Tieren los. Dass der Papagei, die Hunde und die Kaninchen der Familie mitmüssen, steht für sie außer Frage - zum Glück. Heute sind sie das Einzige, was ihrer Zehn- und ihrer Vierzehnjährigen wenigstens ein kleines Lächeln auf die Lippen zaubert.

Mit zwei Autos fährt die Familie los. Vater und Großvater sitzen hinter dem Steuer. Sie wollen die Kinder schnellstmöglich aus der Stadt bringen. Auf dem Weg kommen sie an zerstörten Häusern vorbei und an Städten, die buchstäblich in Schutt und Asche untergegangen sind. „Ein Haus mit 24 Stockwerken war komplett zerbombt“, erzählt die Mutter und schüttelt den Kopf. Sie kann es immer noch nicht glauben.

Eine ukrainische Familie muss sich in Prag voneinander verabschieden

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In Prag erlebt die Familie das nächste Schicksal - sie muss sich voneinander verabschieden. Die Männer müssen zurück in die Ukraine, zurück in den Krieg. Irina Rozhnetskaya setzt sich alleine hinter das Steuer, ihre beiden Töchter sitzen weinend auf dem Rücksitz und blicken auf den winkenden Vater und Großvater zurück.

Sie brauchen fünf Tage für ihre Flucht nach Mülheim. Dass sie hier landen, war nicht geplant. „Am Anfang wollten wir die Ukraine nicht verlassen. Wir sind erst immer zum nächsten, sicheren Ort gefahren. Wenn da dann auch die Bomben flogen, sind wir weiter“, sagt die Mutter. Als der Krieg - entgegen ihrer Erwartungen - fortschreitet, ist sie völlig verzweifelt und bittet eine Freundin um Hilfe. Sie organisiert über Bekannte, dass die Familie privat in Mülheim unterkommen kann.

Sie sind todmüde, als sie ankommen. Schlafen können sie trotzdem kaum. Zu tief sitzt der Schock, zu lebendig spielen sich die traumatischen Kriegsbilder vor ihren Augen ab. Wenn ein Flugzeug vorbeifliegt, zucken die Töchter und die Hunde zusammen. Sie haben noch nicht verinnerlicht, dass ihnen in Mülheim nichts mehr passieren kann. „Ich kann nicht glauben, dass wir sicher sind“, sagt die 14-Jährige Arina Rozhnetskaya mit großen, traurigen Kinderaugen und ihre kleine Schwester senkt betroffen den Blick.

Eine andere Ukrainerin hat auf ihrer Flucht aus Kiew einen Autounfall

Ähnlich geht es Oksana Husieva. Sie flüchtet aus Kiew, als in der Nähe von ihrem Zuhause eine Bombe einschlägt und ihr ganzes Haus anfängt zu vibrieren. Ob es mittlerweile auch zerstört ist, weiß sie nicht. Vorgestern Abend ist sie in Mülheim angekommen. Dass sie es bis hierhin schafft, hätte sie nicht für möglich gehalten. „An der polnischen Grenze ist mir jemand reingefahren. Überall sind Autoteile abgebrochen, alle Warnlampen haben geleuchtet“, erzählt die 50-Jährige im Rückblick und seufzt.

Oksana Husieva aus Kiew mit ihrem Hund und dem kaputten Auto, mit dem sie von Kiew bis nach Mülheim gefahren ist. Ihre Freundin lebt schon seit Jahren hier und hat sie aufgenommen.
Oksana Husieva aus Kiew mit ihrem Hund und dem kaputten Auto, mit dem sie von Kiew bis nach Mülheim gefahren ist. Ihre Freundin lebt schon seit Jahren hier und hat sie aufgenommen. © FUNKE FotoServices | Kerstin Bögeholz

Sie muss ihren alten, roten Smart notdürftig zusammenflicken und mit 80 km/h weiterfahren - schneller geht es nicht mehr. Auf dem Beifahrersitz hat sie ihre kranke Mutter sitzen. Im Kofferraum sind ihr Hund, ihre Katze und ein Kanister Benzin. Sie fährt über 2000 Kilometer nach Mülheim. Aber nur am Tag. Nachts macht Oksana Husieva an Raststätten Halt. Ihr fehlt die Fahrerfahrung, ihren Führerschein hat sie erst seit vier Monaten. Die Flucht dauert insgesamt fünf Tage. „Ich bin einfach nur froh, dass ich keine Bombe abbekommen habe“, sagt sie. Dann nimmt sie ihren Hund auf den Arm, streichelt ihn liebevoll und in ihren Augen sammeln sich die Tränen.