Mülheim. Der Krieg gegen die Ukraine erfasst auch Belarus. Die Mülheimer Tschernobyl-Initiative hat eine Sorge mehr. Hilfe vor Ort wird fast unmöglich.

Für die Aktiven der Mülheimer Initiative Tschernobyl-Kinder e.V. waren die letzten beiden Jahre aufreibend. Die politische Situation in Weißrussland hat sich zunehmend verschärft, die Corona-Pandemie erlaubte Hilfsaktionen nur noch in begrenztem Maße, unter größtem Aufwand. Dass Belarus nun noch am Krieg gegen die Ukraine unmittelbar beteiligt ist, macht die Mülheimer fassungslos.

Dem Vereinsvorsitzenden Norbert Flör sind seine Erschütterung und seine Trauer anzuhören. „Wir haben Krieg“, sagt er am Telefon, als könnte er es selber noch kaum glauben. Die Ukraine wird auch von Weißrussland aus angegriffen. Die USA haben inzwischen gegen Belarus Sanktionen verhängt, weil die russische Invasion von dort aktiv unterstützt wird. „Das macht alles für uns sehr schwer, fast unmöglich.“

„Katastrophe“ für die Mülheimer Initiative und vor allem für die Menschen in Belarus

Was gerade in der Ukraine und ihrem nördlichen Nachbarland passiert, sei „katastrophal für uns und vor allem für die Menschen in Belarus“, sagt Flör, „für unsere Bekannten und Freunde, die in den letzten Monaten und Jahren schon sehr viel Druck aushalten mussten“. Seit den manipulierten Präsidentschaftswahlen im August 2020 habe sich die Lage für die Menschen im Land massiv verschlechtert, berichtet der Vorsitzende der vor drei Jahrzehnten gegründeten Initiative. Einige ehemalige Gastkinder, die jetzt in Minsk studieren, hätten sich an den brutal niedergeschlagenen Demonstrationen beteiligt. Sie würden nun verfolgt.

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Der Geheimdienst setzte die Menschen auch im Alltag unter Druck, so dass die Kommunikation riskant geworden sei. Auch über den Kriegsausbruch hätten sie mit den Freunden im Osten noch nicht persönlich sprechen können. „Am Telefon reden wir generell nur noch über private Dinge, um unsere Freunde nicht zu belasten.“ Zuletzt hat die Mülheimer Tschernobyl-Initiative in der Vorweihnachtszeit ihre traditionelle Hilfsaktion „Ein Schuhkarton voller Hoffnung“ gestartet und einen großen 40-Tonner mit Hilfsgütern auf die Reise nach Belarus geschickt. „Wir selber waren aber nicht dabei“, sagt Flör. Corona habe die persönlichen Bande gekappt, Besuche erschwert, da die Impfstoffe wechselseitig nicht anerkannt würden.

Gastkinder kamen jahrelang und wurden Teil der Familien

Und jetzt ist Krieg. Die Region um Tschernobyl, nach der die Mülheimer Initiative benannt ist, und die Ruine des Atomkraftwerkes wurden am Donnerstag von russischen Streitkräften eingenommen. Die Folgen der Reaktorkatastrophe gaben 1992 den Anstoß für die Mülheimer Hilfsorganisation: Kinder aus Weißrussland, das unter einer atomaren Wolkendecke lang, wurden für mehrere Ferienwochen in hiesige Gastfamilien geholt, um sich zu erholen. Einige dieser Jungen und Mädchen kamen über viele Jahre immer wieder, „sie sind Teil der Familien geworden“, sagt Flör. Er spricht aus eigener Erfahrung.

Vor Weihnachten haben die Mülheimer noch einmal Pakete gepackt und einen 40-Tonner auf die Reise nach Belarus geschickt.
Vor Weihnachten haben die Mülheimer noch einmal Pakete gepackt und einen 40-Tonner auf die Reise nach Belarus geschickt. © Initiative Tschernobyl-Kinder e.V.

Die ehemaligen Gastkinder, die inzwischen selber schon Eltern sind, stehen Norbert Flör und den anderen Helfern sehr nahe. Um sie ist momentan die Sorge am größten, „aber auch um alle anderen Freunde vom Behindertennetzwerk, vom Sozialnetzwerk“. Ein Jugendzentrum baute die Initiative in der belarussischen Kleinstadt Shodino, mit Spendengeldern unterstützt werden unter anderem ein Sozialzentrum für ältere Menschen, eine Kinder-Nothilfeeinrichtung und ein Behindertenzentrum. Auch im Dorf Dobryn, das nur rund 50 Kilometer vom Reaktor entfernt liegt, ganz dicht an der Grenze zur Ukraine und am Sperrgebiet von Tschernobyl, fördern die Mülheimer einen Kindergarten und eine Schule. Wie geht es hier weiter?

„Wir bleiben bei unseren Leuten und lassen niemanden im Stich“

Norbert Flöhr fürchtet, dass jetzt auch die belarussischen Grenzen nach Polen und nach Litauen dicht gemacht werden, die den Freunden – teils mit Visa – bislang noch offen standen. „Ob direkter Kontakt in diesem Jahr überhaupt noch möglich ist, steht in den Sternen“, sagt er. „Wir müssen abwarten, was passiert. Aber wir bleiben bei unseren Leuten. Wir lassen niemanden im Stich.“