Essen. Die Missbrauchs-Opfer melden sich zu Wort: Karsten Dahlem inszeniert „Das Fest“ am Schauspiel Essen. Nach der Premiere gab es Standing Ovations.

Die Welt ist im Hause Klingenfeldt-Hansen schon aus den Fugen geraten, da hat Lieblingssohn Christian noch nicht einmal zu seiner „Wahrheitsrede“ angehoben, die den Vater des Missbrauchs an seinen eigenen Kindern beschuldigt. Stühle, Schränke und Betten baumeln da wie Teile eines riesigen Mobiles über den Köpfen der Festgesellschaft, die sich zum 60. Geburtstag des Familienoberhaupts Helge eingefunden hat.

Verstecken kann sich hier bald niemand mehr, die Mauern des Schweigens werden sukzessive eingerissen wie die Kulissenwände gen Bühnendecke entschweben. Der Vater ein Kinderschänder, die Mutter eine ewig wegsehende Mitwisserin – mit der Theateradaption von „Das Fest“ sorgt Karsten Dahlem am Essener Grillo-Theater für einen intensiven, fordernden und vom Premierenpublikum mit Standing Ovations belohnten Saisonstart.

„Das Fest“ als bewegende Analyse des Wegsehens, Verdrängens und Vertuschens

Ein bisschen Dogma ist noch drin in Dahlems Inszenierung, die die schon vielfach gedeutete, erfolgreiche Kino-Vorlage des dänischen Filmemachers Thomas Vinterberg auf die Bühne bringt. Etwa wenn Trixi Strobel die Familie zunächst mit der nervösen Handkamera in Wackelbilder-Manier umkreist.

Doch Dahlems „Fest“ ist kein voyeuristischer Blick durchs Schlüsselloch auf Abgründe hinter scheinbar heilen Familien-Fassaden, sondern eine bewegende Analyse des kollektiven Wegsehens, Verdrängens und Vertuschens. In Essen erscheint das umso deutlicher, da alle Akteure stets gleichzeitig auf großen, fast leeren Bühne (Claudia Kalinski) agieren, flankiert vom suggestiven Sound des „Geysir-Quartetts“.

Partystimmung mit Polonaise auf der Bühne des Grillo-Theaters

Karsten Dahlem zeigt dabei, was der Abend vor allem braucht: Ein überzeugendes, differenziert aufspielendes Ensemble, das den schmerzhaften Spagat zwischen ausgelassener Party und verstörender Missbrauchs-Anklage ausgestalten kann. Denn die Enthüllungen lassen den Abend in Schüben implodieren, während man sich zwischendurch zur vergnügter Polonaise einreiht und Onkel Leif zur Abwechslung die Hosen runterlässt.

Auch Alexey Ekimov zeigt als jüngster Sohn Michael gerne mal nackte Haut. Sein aufgedrehtes Großmaul im Stringtanga ist gewagt und gleichzeitig so passgenau gezeichnet wie der brutalstmöglich gut gelaunte Toastmaster von Stefan Migge. So hoch sie auf dem dünnen Seil der Sorglosigkeit tänzeln, so tief ist immer wieder der Absturz. Scham, Scheu, Verzweiflung und glühende Wut pochen dabei in der Brust von Christian, dessen Zwillingsschwester Linda sich in Folge des ebenfalls erlittenen Missbrauchs das Leben genommen hat.

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Als höchst lebendiger Geist wirbelt Trixi Strobel nun mit bei diesem Totentanz, fungiert als Christians Einflüsterin und Antreiberin in Namen der Anklage. Immer wieder tänzelt Philipp Noack dabei wie ein angeschlagener Boxer zurück in den Ring: Neue Runde, neuer Vorwurf. Während die Front der Zweifler und Vater-Verteidiger mit Worten, manchmal sogar mit Fäusten zurückschlägt.

Das Theaterstück will den Opfern von Missbrauch eine Stimme geben

Jens Wintersteins Familienpatriarch Helge wirkt dabei kein bisschen dämonisiert, sondern so harmlos-zugewandt und freundlich-manipulativ, dass nicht nur Christian zeitweise Zweifel an seinen eigenen Erinnerungen bekommt.

In Karsten Dahlems Inszenierung wird den Opfern von Kindesmissbrauch am Ende sogar vielstimmig das Wort gegeben. Die Schlussszene ist noch einmal ein leiser, aber dringlicher Beleg für die bestürzende Relevanz des Themas. Der Premieren-Applaus fiel am Ende umso lauter aus.

Termine und Tickets: Tel. 0201-8122-200 und online. www.theater-essen.de