Essen. Mit Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie“ zeigt Zafer Tursun bei seinem Essener Regiedebüt in der Casa, was Anpassung heute bedeuten kann.

Sie gehört zum Kanon der Weltliteratur, ist etwas über 100 Jahre alt und bietet gefühlt fast ebenso viele Ansätze zur Interpretation: Franz Kafkas Erzählung „Ein Bericht für eine Akademie“, die Anfang der 1960er Jahre für das Theater entdeckt wurde. Zafer Tursun, Regieassistent am Schauspiel Essen, zeigt sie in seiner ersten großen Inszenierung im Zeichen der Anpassung von heute. Und zwar nicht nur in Bezug auf Neuankömmlinge in diesem Land. „Wir sitzen doch alle in einem Boot“, meint er vor der Premiere in der Casa zu Spielzeitbeginn.

https://www.waz.de/staedte/essen/neue-spielzeit-alles-bleibt-anders-im-schauspiel-essen-id232614829.htmlEr wurde in Köln mit kurdischen Wurzeln geboren, besuchte den Montessori-Kindergarten und die Montessori-Grundschule, wo Geschichten schreiben und erzählen früh gefördert wurden, machte Abitur und studierte Germanistik und Soziologie. Dennoch registriert er sehr wohl, dass das nicht der Weg ist, den man einem Kind der ersten Gastarbeiter-Generation zutraut.

Kafka beschäftigt den Regisseur seit dem Studium

Mit dem Meister der klaren, einfachen Worte und der alptraumhaften Metaphorik, der neben dem Verhältnis zum Vater, die Grausamkeit gesellschaftlicher Systeme, die Verwandlung von Mensch zu Tier und umgekehrt thematisierte, beschäftigte er sich seit dem Studium in Mannheim immer wieder. Auch bei seiner Masterarbeit und später der Inszenierung von „Der Hungerkünstler“, die in der freien Szene Kölns zu sehen war. Ein kurzer Ausflug in den Journalismus war für ihn nicht die Erfüllung: „Das machte mich nicht glücklich.“ Beim Einsatz als Kleindarsteller bei der Oper „Faust“ entdeckte er die Möglichkeiten am Theater.

Seit 2020 ist Zafer Tursun Regieassistent am Schauspiel Essen. Seine Abende über Polizeigewalt oder Flucht und Nicht-Ankommen weisen ihn als politischen Regisseur aus. „Alle Menschen agieren politisch. Ich mache politische Themen, aber nicht ausschließlich“, meint der 31-Jährige, der „Romeo und Julia“ wegen der psychologischen Charakterzeichnungen Shakespeares auf der Wunschliste hat. Seine erste größere Regie-Arbeit „Ein Bericht für eine Akademie“ trägt wiederum politische Züge.

Rezo Tschchikwischwili, Dennis Bodenbinder und Shehab Fatoum (v.l.)  in Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie
Rezo Tschchikwischwili, Dennis Bodenbinder und Shehab Fatoum (v.l.) in Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie", inszeniert von Zafer Tursun. © Foto: Matthias Jung

Erzwungene Anpassung aus mehreren Perspektiven

Im klinisch wirkenden Labyrinth von Marlene Lücker zielt er auf mehr als eine Interpretation ab. „Ich will die Geschichte aus mehreren Perspektiven zeigen, die Geschichte einer erzwungenen Anpassung“, sagt er. Das ist schon an der Besetzung abzulesen. Die Schauspieler Dennis Bodenbinder, Shehab Fatoum und Rezo Tschchikwischwili verkörpern den Affen Rotpeter. „Es ist ein Unterschied, ob ein junger oder alter Mensch sie erzählt, ein Einheimischer oder ein Mensch mit Migrationsvorteil“, erklärt Zafer Tursun.

Angereichert mit eigenen Texten des Regisseurs ist die Inszenierung im Rahmen einer Stückentwicklung entstanden. Themen wie Freiheit, Wut, Angst fließen subtil ein wie die Vater-Beziehung des Schriftstellers. „Einen Bezug zu Kafka zu schaffen, ist mir wichtig“, so Tursun. Im Hintergrund schwingt die Diskussion um eine deutsche Leitkultur mit, die das Angleichen an Regeln und Gebräuche der Gesellschaft zur Integration einfordert.

Die Verdrängung der Vergangenheit als Ausweg

Kafkas Erzählung bleibt der Kern. Der 1917 veröffentlichte Stoff beschreibt die traumatische Entführung des Affen Rotpeter von Westafrika nach Europa, der in der Assimilation bis zur Selbstaufgabe einen Ausweg sucht. Er lernt den menschlichen Handschlag, Schnaps zu trinken, Pfeife zu rauchen und eignet sich einen komplexen Wortschatz an. Die Verdrängung seiner Vergangenheit lässt ihn als anerkannter Menschenimitator im Varieté landen. Daraus ergeben sich für Zafer Tursun viele Fragen für einen Diskurs, unter anderen diese: „Wer kann sich mit dieser Geschichte identifizieren und wie schafft man das, ohne ver-rückt zu werden zwischen zwei Welten?“

Mehr_Inhalte_aus_Essen{esc#233146165}[infobox] Kafka hat es als Jude erlebt, Tursun ganz anders als Gastarbeiterkind. „Ich lebe mit der Anpassung mein ganzes Leben. Man wird anders wahrgenommen als man sich selber sieht“, erzählt er. Im Studium in Mannheim war er der Student kurdischer Abstammung. „Und ich dachte, ich bin ‘ne Kölsche Jung“, meint der Regisseur. Ganz im Sinne Kafkas hat er Bilder von schwarz behüteten Männer im Kopf, die ihm an der Uni sagen: „Das war so nicht gedacht. Sie gehören nicht hierher.“ Auch eine Art Alptraum.

Die Premiere

„Bericht für eine Akademie“ hat in der Bühnenfassung von Zafer Tursun am 27. August, 19.30 Uhr, Premiere in der Casa des Schauspiel Essen. Weitere Termine: 16. und 29. September sowie 8. Oktober, jeweils um 19 Uhr. Die Aufführung am 31. August entfällt.

Die Ensemblemitglieder Dennis Bodenbinder, Shehab Fatoum und Rezo Tschchikwischwili sind in der Rolle des Affen Rotpeter zu sehen.

Karten unter: 0201 8122 200 oder www.theater-essen.de