Kopftuchverbot beim Arzt, Beispiele für gelungene Eingliederung und neuer Ärger um den Bundesbank-Vorstand. Thilo Sarrazin spaltet das Land.
Berlin/Hamburg. Die erbitterte Diskussion über Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ hat eine neue Debatte über die Integration von Migranten in Deutschland ausgelöst. Die Politik müht sich um Antworten auf unliebsame Fragen, die Kirchen sind beteiligt, die Verbände preschen mit neuen Ideen vor, die Bürger diskutieren am Stammtisch, im Wohnzimmer und in den Millionen Vereinen. Und ein Arzt aus Osthessen hat umgehend ein Kopftuchverbot in seiner Praxis verhängt. Deshalb muss er jetzt Konsequenzen fürchten. Dem Mediziner aus Wächtersbach drohe ein Disziplinarverfahren seines Berufsverbands, sagte der Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen (KV), Matthias Roth.
Auch die Landesärztekammer prüft, ob der Mann gegen das Berufsrecht verstößt, weil er in seiner Praxis Sonderregeln aufgehängt hat und Kopftücher ebenso wenig wie Großfamilien duldet. Der Arzt muss sich innerhalb von zwei Wochen zu seinem Verbot äußern. Er hatte zudem von seinen Patienten Grundkenntnisse der deutschen Sprache verlangt. Ansonsten sei ein „reibungsloser Praxisablauf“ nicht möglich. Der Arzt kündigte Ende der Vorwoche an, die Aushänge in seiner Praxis so zu ändern, dass sie für muslimische Patienten „akzeptabel“ seien.
Die Wissenschaftler versuchen, die Diskussion mit Zahlen zu untermauern. Jugendliche mit Migrationshintergrund besuchen deutlich seltener ein Gymnasium als gleichaltrige deutsche Kinder. Mehr als doppelt so häufig sind Migrantenkinder dagegen auf einer Hauptschule anzutreffen. Darauf hat der Sozialwissenschaftler und Autor des jüngsten Bildungsberichtes von Bund und Ländern, Martin Baethge, bei einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert- Stiftung in Berlin hingewiesen. Baethge bezeichnete die bessere Bildungsförderung der Migrantenkindern als eine der wichtigsten Aufgaben der Bildungspolitik.
Während die Zahl der deutschen Kinder weiter rückläufig ist, wächst der Anteil der Migrantenkinder – vor allem in städtischen Ballungsgebieten wie Berlin, Hamburg oder Frankfurt/Main, München und Stuttgart. Die Unterschiede in der Bildungsbeteiligung beginnen bereits im Kindergartenalter. Die Vorsitzende des Bundestags-Bildungsausschusses, Ulla Burchardt, forderte vom Bund und den Ländern eine gemeinsame Strategie zur Weiterentwicklung des Bildungssystems. Es reiche nicht aus, lediglich regelmäßig Bildungsberichte vorzulegen und dabei auch Fehlentwicklungen zu benennen.
Untersuchungen haben wiederholt die Nachteile von Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystems belegt. So erhalten laut der Iglu-Grundschulstudie Kinder mit Migrationshintergrund auch bei gleicher Intelligenz und Lernvermögen weitaus seltenen eine Gymnasialempfehlung ihres Lehrers als Kinder deutscher Herkunft. Nachteile haben Jugendliche mit Migrationshintergrund auch bei der Lehrstellensuche. 15 Monate nach Ende ihrer Hauptschulzeit hatten von den Deutschen mit „guten bis sehr guten“ Mathematikleistungen 64 Prozent einen Ausbildungsplatz gefunden. Bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund waren dies bei gleichen Noten nur 40 Prozent.
Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) warnte in der Debatte vor einer Schwarz-Weiß-Malerei. „Es gibt Integrationserfolge, die nicht vergessen werden dürfen“, sagte sie der Nachrichtenagentur dpa. So würden rund zehn Prozent aller Unternehmen in Deutschland von Ausländern geführt, darunter die größte Gruppe aus der Türkei, sagte Leutheusser-Schnarrenberger unter Berufung auf die Industrie- und Handelskammer. „Die deutsch-türkische Unternehmergruppe schätzt, dass etwa 100.000 türkisch-stämmige Unternehmer rund 300.000 Arbeitsplätze in Deutschland schaffen.“ Zudem gebe es mindestens doppelt so viele türkischstämmige Studenten wie vor 20 Jahren. Integration klappe zwar noch nicht wie gewünscht. Auch Sanktionsmechanismen müssten aber nicht neu erfunden werden.
Grünen-Chef Cem Özdemir hat eine Versachlichung der Debatte über die Integration von Zuwanderern gefordert. „Es gibt berechtigte Sorgen in der Bevölkerung“, sagte Özdemir zu Beginn einer Klausurtagung des Bundesvorstands der Grünen in Düsseldorf. Die Politiker müssten diese Sorgen aufnehmen. „Wir müssen aber Antworten präsentieren und dürfen nicht Ängste schüren.“
Zu einer gelungenen Integration müssten beide Seiten ihren Beitrag leisten. Die Mehrheitsgesellschaft müsse sich daran gewöhnen, „dass Zuwanderer Teil unseres Landes sind“. Die Zuwanderer seien „genauso aufgefordert wie alle anderen, die Ärmel hochzukrempeln und sich einzubringen in unser gemeinsames Land“.
Von Zuwanderern müsse erwartet werden, dass sie die Prinzipien des Grundgesetzes anerkennen. Dazu gehöre die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. „Man kann in dieser Gesellschaft nur erfolgreich mitmachen, wenn man auf dem Boden der Verfassung steht“, sagte Özdemir.
Sarrazin zeigte sich bei einer Lesung in Berlin angespannt . Das früher schwere Stottern, das sich bei ihm in den vergangenen Jahren fast legte, kommt hier und da auf dem Podium wieder durch. Obwohl er sich in der Debatte am Montagmorgen gelassen geben will, reagiert er zwischendurch gereizt und wird lauter. Und nervös ist offenbar auch das Bundeskriminalamt: Vier Leibwächter begleiten Sarrazin bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nach der Vorstellung des umstrittenen Buches.
Wie gespalten die Gesellschaft von den Sarrazinschen Thesen über angeblich integrationsfeindliche Einwanderer ist, zeigen Reaktionen. Im Saal an der Friedrichstraße, wo auf Einladung des „Behörden Spiegels“ Beamte und öffentliche Angestellte tagen, erhält der Bundesbank-Vorstand Zwischenapplaus. Buhrufe gibt es dagegen für die Linke-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen, die von einem „strukturellen Rassismus in der Gesellschaft“ spricht. Als Sarrazin später über die Straße zu seinem Auto geht, ruft ihm ein junger Mann aus seinem offenen Autofenster halblaut nach: „Sarrazin, du Nazischwein.“
Inhaltlich gibt Sarrazin keinen Millimeter nach. „70 Prozent der Migranten sind bestens integriert in der zweiten Generation. 30 Prozent haben enorme Probleme und das sind die Migranten aus den muslimischen Ländern“, sagt er und viele Zuhörer nicken. Die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) fordert eine „sachliche Auseinandersetzung“. Die Links-Politikerin Dagdelen kritisiert „soziale Ausgrenzungen“ und verlangt Geduld und mehr Förderung. Sarrazin platzt dazwischen: „Der Gastarbeiterstopp war vor 37 Jahren, in der Zeit kann man Deutsch lernen.“ Dagdelen redet weiter, mehrfach tönt es von gegenüber: „Vor 37 Jahren.“
Sarrazin gewinnt erst vor der Tür seine Ruhe wieder. Im beigen Trenchcoat, mit geschultertem Rücksack steht Sarrazin umringt von Journalisten an der belebten Friedrichstraße. Wie es nun weiter gehe, wird er gefragt. Die Antwort besteht nur noch aus einem Satz: „Ich warte darauf, dass die Ampel grün wird.“ Dann lässt er sich zum ICE nach Frankfurt bringen.