Präzedenzfall Thilo Sarrazin: Wie wird man einen Bundesbank-Vorstand los? Ralph Giordano kritisiert im Abendblatt den Rauswurf.
Frankfurt. Bundespräsident Christian Wulff verlangt vor der Entlassung von Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin eine Stellungnahme der Bundesregierung. Das teilte das Präsidialamt mit. Kurz zuvor war der Antrag der Deutschen Bundesbank zur Entlassung ihres Vorstandsmitglieds Sarrazin beim Bundespräsidenten eingetroffen. Für die Entlassung eines Bundesbank-Vorstands gibt es bislang keinen Präzedenzfall. Deshalb war seit Tagen spekuliert worden, ob neben dem Bundespräsidenten auch die Bundesregierung eingeschaltet werden muss.
Politisch hatte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bereits zu den umstrittenen Thesen Sarrazins zur Integration muslimischer Einwanderer geäußert. Wulff hatte sich für eine rasche Klärung des Falles ausgesprochen. Bis es soweit ist, können jetzt noch Tage vergehen.
Die Bundeskanzlerin Merkel hatte sich in der Debatte um die Thesen von Thilo Sarrazin schützend vor die in Deutschland lebenden Türken gestellt. Allerdings müssten bestehende Probleme in der Integration auch offen diskutiert werden, zitierte die türkische Tageszeitung „Hürriyet“ die Kanzlerin. Einwanderer müssten die Chance erhalten, sich in Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft einzubringen. Darum müssten sie sich aber aktiv bemühen. Integration sei eine der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit.
Sarrazins Vorwürfe an die Adresse von muslimischen Migranten bezeichnete Merkel als „absurd“ und als „Unsinn". Viele Migranten hätten sich bereits sehr gut integriert. Dies könne in den von vielen Türken bewohnten Bezirken in Berlin gesehen werden, wo die Menschen gut Deutsch könnten, kleine Geschäfte hätten und ihre Kinder zur Schule schickten. Gute Entwicklungen dürften nicht verschwiegen werden.
Der jüdische Publizist Ralph Giordano („Die Bertinis“) hat die geplante Abberufung Sarrazins aus dem Vorstand der Bundesbank scharf kritisiert. Im Hamburger Abendblatt sagte Giordano mit Blick auf die Front der Sarrazin-Gegner: „Da bläst eine schrille Kakafonie zum moralinsauren Halali, unbeeindruckt, dass die Kluft zwischen öffentlicher Meinung und Deutungsanspruch der politischen Klasse so weit auseinanderliegt wie selten zuvor.“
Immer wieder werde Sarrazins Ausspruch von den jüdischen und baskischen Genen kritisiert. „Der Kern des Buches aber, seine Botschaft wird dabei großzügig ausgespart: das enorme Integrationsdefizit der muslimischen Minderheit in Deutschland, die kulturell bedingten Hemmnisse, die dabei aus ihr selbst kommen und zu heillosen, haarsträubenden Zuständen in den Parallelgesellschaften geführt haben.“
+++ Porträt: Thilo Sarrazin – Finanzexperte, Genosse und Provokateur +++
Der geschasste Bundesbanker hat nach Ansicht von Giordano mit seinem Buch einen wichtigen Beitrag zur Integrationsdebatte geleistet: „Sarrazin hat mit scharfer Feder das Thema Nummer eins der deutschen Innenpolitik, Migration/Integration, auf eine neue Ebene des öffentlichen Bewusstseins katapultiert. Und das wider eine Political Correctness, die es unverantwortlicherweise nur allzu lange behandelt hat wie eine multikulturelle Idylle mit kleinen Schönheitsfehlern, die durch sozialtherapeutische Maßnahmen behoben werden könnten.“
Unterdessen wurde bekannt: Das Buch von Sarrazin findet reißenden Absatz. Bei vielen Buchhändlern war das umstrittene Werk „Deutschland schafft sich ab“ am Freitag ausverkauft. Das ergab eine dpa-Umfrage. Nach Angaben des Verlags DVA sind bereits 70.000 Bücher ausgeliefert; am Montag soll die vierte Auflage mit weiteren 80. 000 Exemplaren folgen. Eine Sprecherin der Deutschen Verlags-Anstalt in München sagte, die Gesamtauflage werde bei 250.000 Exemplaren liegen.
Sarrazin droht neben seiner Entlassung als Bundesbank-Vorstand auch der Rausschmiss aus der SPD. Sein Berliner SPD-Kreisverband Charlottenburg-Wilmersdorf leitete am Donnerstag den Parteiausschluss ein, weil der frühere Berliner Finanzsenator die Partei mit seinem Verhalten schädige.