Der türkischen Zeitung „Hürriyet“ sagte sie jedoch, Integration müsse offen diskutiert werden. Kritik von Ralph Giordano im Hamburger Abendblatt.
Frankfurt. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat sich in der Debatte um die Thesen von Thilo Sarrazin schützend vor die in Deutschland lebenden Türken gestellt. Allerdings müssten bestehende Probleme in der Integration auch offen diskutiert werden, zitierte die türkische Tageszeitung „Hürriyet“ (Onlineausgabe) die Kanzlerin nach einem Interview. Einwanderer müssten die Chance erhalten, sich in Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft einzubringen. Darum müssten sie sich aber aktiv bemühen. Integration sei eine der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit.
Sarrazins Vorwürfe an die Adresse von muslimischen Migranten bezeichnete Merkel der Zeitung gegenüber als „absurd“ und als „Unsinn". Diese seien nicht zu akzeptieren. Viele Migranten hätten sich bereits sehr gut integriert. Dies könne in den von vielen Türken bewohnten Bezirken in Berlin gesehen werden, wo die Menschen gut deutsch könnten, kleine Geschäfte hätten und ihre Kinder zur Schule schickten. Gute Entwicklungen dürften nicht verschwiegen werden.
Der jüdische Publizist Ralph Giordano („Die Bertinis“) hat die geplante Abberufung Sarrazins aus dem Vorstand der Bundesbank scharf kritisiert. Im Hamburger Abendblatt sagte Giordano mit Blick auf die Front der Sarrazin-Gegner: „Da bläst eine schrille Kakafonie zum moralinsauren Halali, unbeeindruckt, dass die Kluft zwischen öffentlicher Meinung und Deutungsanspruch der politischen Klasse so weit auseinanderliegt wie selten zuvor.“ Immer wieder werde Sarrazins Ausspruch von den jüdischen und baskischen Genen kritisiert. „Der Kern des Buches aber, seine Botschaft wird dabei großzügig ausgespart: das enorme Integrationsdefizit der muslimischen Minderheit in Deutschland, die kulturell bedingten Hemmnisse, die dabei aus ihr selbst kommen und zu heillosen, haarsträubenden Zuständen in den Parallelgesellschaften geführt haben.“
Der geschasste Bundesbanker hat nach Ansicht von Giordano mit seinem Buch einen wichtigen Beitrag zur Integrationsdebatte geleistet: „Sarrazin hat mit scharfer Feder das Thema Nummer eins der deutschen Innenpolitik, Migration/Integration, auf eine neue Ebene des öffentlichen Bewusstseins katapultiert. Und das wider eine Political Correctness, die es unverantwortlicherweise nur allzu lange behandelt hat wie eine multikulturelle Idylle mit kleinen Schönheitsfehlern, die durch sozialtherapeutische Maßnahmen behoben werden könnten.“
Sarrazins Thesen wabern trotz des angekündigten Rauswurfs weiter in der Debatte um Integration. „Ich rate dringend dazu, die offenkundige Besorgnis in der Bevölkerung ernst zu nehmen und darauf Antworten zu finden“, sagte der Vorsitzende des Innenausschusses im Bundestag, Wolfgang Bosbach (CDU). Nach Ansicht des amtierenden Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, gibt es bereits einen Aufbruch zu vernünftiger Integrationspolitik. Die Politik sei aufgewacht, nachdem fast 40 Jahre nichts geschehen sei.
+++ Porträt: Thilo Sarrazin – Finanzexperte, Genosse und Provokateur +++
Der frühere Berliner Finanzsenator und heutige Bundesbankvorstand Sarrazin war wegen seiner provokanten Thesen zur Integration von Muslimen in Deutschland und zur Erblichkeit von Intelligenz in die Kritik geraten. Die Bundesbank hatte am Donnerstag beschlossen, beim Bundespräsidenten die Abberufung Sarrazins zu beantragen.
Präses Schneider sagte der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“, Sarrazin habe mit „schroffen Verkürzungen“ unseriös Wirbel entfacht und dabei bestimmte Bevölkerungsgruppen beleidigt. „Ansichten aus der Genetik einfach ins Soziale zu übersetzen, das geht meines Erachtens gar nicht“, sagte der oberste Repräsentant im deutschen Protestantismus.
Vor dem Hintergrund der Sarrazin-Debatte hat Bundespräsident Christian Wulff den Großteil der Migranten in Deutschland gegen den Vorwurf mangelnder Integrationsbereitschaft in Schutz genommen. „Die Mehrzahl neu angekommener Bürger nimmt erfolgreich an Integrationskursen teil“, sagte er der „Mainzer Allgemeinen Zeitung“. Wulff räumte zugleich Defizite in der deutschen Ausländerpolitik ein: „Versäumte Anstrengungen bei der Integration müssen nachgeholt werden“, forderte der Bundespräsident. Andererseits müssten aber auch „klare Forderungen an Zuwanderer formuliert werden“.
Sarrazin droht neben seiner Entlassung als Bundesbank-Vorstand auch der Rausschmiss aus der SPD. Sein Berliner SPD-Kreisverband Charlottenburg-Wilmersdorf leitete am Donnerstag den Parteiausschluss ein, weil der frühere Berliner Finanzsenator die Partei mit seinem Verhalten schädige.