„Deutschland schafft sich ab“, schreibt der Ex-Senator. Sarrazins Thesen über Zuwanderer treiben Wissenschaftler zum Nachforschen.
Berlin. Thilo Sarrazin hat aus Sicht einer Forschungsgruppe der Berliner Humboldt-Universität in seinen provokanten Thesen zur angeblich fehlenden Integrationsfähigkeit muslimischer Zuwanderer wichtige Untersuchungen nicht berücksichtigt. „Er ignoriert einfach Studien, die für Wissenschaftler und Fachleute von zentralem Gewicht sind – das ist doch verwunderlich, wenn man den Anspruch erhebt, wissenschaftlich schreiben zu wollen“, sagte die Politikwissenschaftlerin Naika Foroutan der Nachrichtenagentur dpa.
Das Buch „Deutschland schafft sich ab“ des Ex-Bundesbank-Vorstandes und früheren Berliner SPD-Finanzsenators hält sich seit geraumer Zeit an der Spitze von Bestsellerlisten in Deutschland. Foroutan ist Herausgeberin eines Dossiers, in dem Thesen Sarrazins zu Muslimen in Deutschland auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden. Die knapp 70 Seiten umfassende Veröffentlichung ist am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität entstanden.
„Sarrazin stilisiert sich als Tabubrecher“, sagte Foroutan. „Wir wollten aber darauf hinweisen, dass in Wissenschaft und Politik, bei den Leuten, die tagtäglich beruflich Integrationsarbeit leisten, die Problemlagen der Integration schon wesentlich länger bekannt sind. Und seit fünf Jahren ist man dabei, Lösungsstrategien zu entwickeln und Missstände langfristig zu beseitigen, und seither ist einiges passiert.“
„Doch Sarrazin nimmt die positive Integrationsdynamik gar nicht wahr und beschreibt teilweise die Vergangenheit“, sagte Foroutan. „Eine Zeitspanne von fünf Jahren mag vielleicht kurz erscheinen. Aber wenn man sich überlegt, dass es vor fünf Jahren Facebook noch nicht gab, was heute für viele Menschen ein selbstverständliches Kommunikationsinstrument ist, dann wird einem klar, wie viel sich in fünf Jahren doch verändern kann.“
Sarrazin vertritt unter anderem die These, dass es bei muslimischen Zuwanderern über die Generationenfolge hinweg keine positive Entwicklung zu einer höheren Bildung gibt. Foroutan widerspricht dem vehement: „Die Bildungsentwicklung ist einfach offenkundig.“ Die Forschungsgruppe hält Sarrazin entgegen, dass bei sämtlichen muslimischen Zuwanderungsgruppen die Angehörigen der nächsten Generation deutlich häufiger als ihre Elterngeneration das deutsche Schulsystem mit einem Schulabschluss verlassen. Die Sozialwissenschaftler verweisen auch auf die PISA-Studie 2009, die das Bildungsgefälle zwischen Jugendlichen aus Zuwandererfamilien und ihren deutschstämmigen Altersgenossen langsam schwinden sehe, und zwar aufgrund eines stetigen Bildungsanstiegs bei Jugendlichen aus Zuwandererfamilien.
Auch andere Annahmen Sarrazins sind nach Auffassung der Forschungsgruppe bei genauerem Hinsehen nicht zu halten. So würden – anders als von Sarrazin dargestellt – Musliminnen der zweiten Generation weniger häufig ein Kopftuch tragen. 70 Prozent der Frauen mit muslimischem Migrationshintergrund trügen kein Kopftuch.
Die Autoren arbeiten im Forschungsprojekt „Hybride Europäisch-Muslimische Identitätsmodelle“, das von der Volkswagen-Stiftung finanziert wird. In ihrem Dossier ziehen sie für die Bewertung von Sarrazins Thesen Daten des Mikrozensus 2008 und 2009 sowie 20 repräsentative Studien renommierter deutscher Forschungseinrichtungen und Bundesbehörden heran. Die Veröffentlichung „Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand“ ist über www.heymat.hu-berlin.de einzusehen.