Frank-Walter Steinmeier bekam die Wut der geschrumpften SPD-Fraktion zu spüren, ehe sie ihn doch zum Chef wählte.
Berlin. Es war Viertel vor drei, als ein Teewagen voller Blumensträuße zum Fraktionssaal der SPD gerollt wurde. Blumen gibt es bei den Genossen immer. Auch zum Abschied. Sogar wenn dieser Abschied erzwungen wurde.
Der scheidende SPD-Generalsekretär Hubertus Heil mochte sich gestern Nachmittag nicht dazu äußern, wann und wie seine Entscheidung zustande gekommen war, nicht mehr für sein Amt zu kandidieren. Elf politische Jahre habe er in der Regierung miterlebt, meinte er nur wehmütig. Und dass er froh sei, seine Partei zuletzt auch auf der "Ruckelstrecke" begleitet zu haben. Und dass er sich auf sein Leben als einfacher Bundestagsabgeordneter freue!
Heil, der seinen Platz gestern für die Parteilinke Andrea Nahles frei machen musste, wirkte in diesem Augenblick ein wenig verloren, aber über die Vorgänge machte er sich keine Illusionen. Über die angewandten Methoden noch weniger. "Nicht gut", meinte der Mann aus Peine nur knapp, als Journalisten von ihm wissen wollten, wie er das Vorgehen der Berliner Genossen gefunden habe. Einer wie Hubertus Heil bleibt loyal bis zum bitteren Ende.
An der Spitze der Linken, die die Aufräumaktion in Gang setzten, stand gestern Morgen Michael Müller, der Vorsitzende des Berliner SPD-Landesverbandes. Müller erklärte, man brauche "eine Neuaufstellung an der Parteispitze". Einen Generationenwechsel. Müller nannte auch Namen: Andrea Nahles, Olaf Scholz, Sigmar Gabriel und Klaus Wowereit. Diese vier hätten sich in der Vergangenheit profiliert, und nun werde es Zeit, meinte Müller scharf, dass sie Verantwortung übernähmen. Am Vorabend hatte Müllers Landesverband im Beisein von Berlins Regierendem Bürgermeister Wowereit bereits eine Resolution verabschiedet, in der Franz Müntefering, Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück zum Rückzug aus ihren Parteiämtern aufgefordert wurden. Diese drei müssten weg. Grund: Ihre Namen seien "untrennbar mit der Agenda-Politik" von Ex-Kanzler Gerhard Schröder und der abgewählten Großen Koalition verbunden.
Dass das große Schlachten gestern etwas weniger blutig ausgefallen ist als angekündigt, beweist nur, dass die Parteilinken - vorerst - zufrieden sind. Bereits vor Beginn der Fraktionssitzung wurde im Reichstaggebäude folgendes Personaltableau ventiliert: Nahles wird Generalsekretärin, Gabriel übernimmt den Parteivorsitz, Scholz und Wowereit rücken zu stellvertretenden Parteivorsitzenden auf. 70 Minuten nachdem die Fraktionssitzung begonnen hatte, drang nach außen, dass Franz Müntefering endlich bereit sei, auf den SPD-Parteivorsitz zu verzichten. Der Mann, der noch am Montag gesagt hatte, er wolle "mithelfen, dass wir uns in den nächsten Wochen in geordneter Weise aufstellen". In dem Irrglauben, irgendwer lege noch Wert auf seine weitere Mitarbeit. Als Müntefering das sagte, war er politisch schon tot. Er hätte es wissen können. Er hätte sich nur an das schmähliche Ende von Kurt Beck erinnern müssen. Überlebt hat den Dienstag nach dem Wahlsonntag nur Frank-Walter Steinmeier. Jedenfalls fürs Erste. Der Agenda-Miterfinder und gescheiterte Kanzlerkandidat, der bereits am Wahlabend den Fraktionsvorsitz für sich reklamiert hatte. Steinmeier bekam gestern erstmals die Wut der SPD-Fraktion zu spüren, die um 76 auf 146 Abgeordnete geschrumpft ist. Handstreichartig habe man ihnen den Mann aus Brakelsiek als neuen Fraktionsvorsitzenden präsentiert, hieß es. Vor allem die, die am Sonntag den erhofften Wiedereinzug in den Bundestag verpasst hatten, zogen vom Leder. Schon auf dem Weg in den demnächst viel zu großen Otto-Wels-Saal hatten die meisten Genossen geradezu verbiestert gewirkt. Und während der Sitzung soll der freiwillig ausscheidende Fraktionsvorsitzende Peter Struck irgendwann fassungslos in die Versammlung gerufen haben: "Leute, wo leben wir denn!?"
Steinmeier selbst versuchte die Gemüter zu beruhigen. Die Fraktion sei das Machtzentrum der Partei, rief er in den Saal. Sie müsse deshalb auch Vorbildfunktion für die gesamte Partei haben. "Gerade" in der Opposition! Steinmeier erinnerte dabei an die wichtige Rolle, die die SPD-Fraktion nach dem Machtverlust im Bund 1982 gespielt habe. Aber die aufgebrachten Genossen ließen sich lange nicht beruhigen. Sicherheitskräfte versuchten zu verhindern, dass von dem Krach zu viel nach außen drang.
Den Fraktionsvorsitz hat Steinmeier gestern an sich gerissen - der Doppelschlag ist ihm nicht gelungen. Aus seinem - mit Franz Müntefering - vorbereiteten Plan, gleich auch noch den SPD-Vorsitz zu übernehmen, ist gestern nichts geworden. Dagegen hatte sich im Laufe des Tages eine breite Abwehrfront in der Partei aufgebaut. SPD-Linke wie -Rechte waren in seltener Allianz entschlossen, diesen Durchmarsch zu verhindern. Wer glaube, das durchsetzen zu können, sei "schief gewickelt", hatte der Parteilinke Björn Böhning Steinmeier und Müntefering bereits am frühen Morgen via Deutschlandfunk wissen lassen.
Erst danach hat man im Steinmeier-Lager begriffen, dass es besser wäre, es nicht auf eine offene Machtprobe ankommen zu lassen. Am Nachmittag verkündete Steinmeier vor der Fraktion, auch er sei der Meinung, dass eine Verteilung der Verantwortung "auf mehrere Schultern" richtig sei. Und der Vorschlag, so zu verfahren, stamme übrigens von ihm persönlich!
Man müsse den Kampf annehmen, damit die SPD eine Volkspartei bleibe: "Mit der Fraktion als Speer-Spitze!" Ein Teilnehmer berichtete, Steinmeier habe auch noch gesagt, dass er nach der Wahl überlegt habe, ob er sich "aus der Verantwortung stehlen" oder weiter mithelfen solle, die SPD wieder "voranzubringen". Sehr lange kann diese Überlegungsphase allerdings nicht gedauert haben. Wenn man sich recht erinnert, ist Steinmeier - begleitet von Franz Müntefering - am Sonntagabend um 18.37 Uhr vor die Kameras getreten. Und zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits beschlossen, den Fraktionsvorsitz für sich zu fordern, was er dann ja auch bekannt machte. Am Ende ihrer tumultösen Sitzung hat die Fraktion Frank-Walter Steinmeier gestern zu ihrem neuen Vorsitzenden gemacht. 126 SPD-Abgeordnete haben mit Ja gestimmt, 16 mit Nein. Prozentual betrachtet lag die Zustimmung bei 88,7 Prozent. Allerdings ist der scheidende Außenminister gut beraten, das nicht unbedingt als Vertrauensbeweis zu werten. Es könnte nämlich sein, dass der Machtkampf in der SPD gestern erst angefangen hat und dass dem Miterfinder der verhassten Agenda 2010 der Wind bereits auf dem für Mitte November angesetzten Dresdner Parteitag noch eisiger ins Gesicht wehen wird.
Nach dem vorläufigen Sieg für Steinmeier läuft in der SPD ja alles auf eine vorläufige Machtteilung in der Partei-Spitze hinaus: Die Parteilinke akzeptiert den Pragmatiker Sigmar Gabriel als Nachfolger von Franz Müntefering, als Preis dafür bekommt Andrea Nahles den Posten der Generalsekretärin. Dass diese Konstruktion auf Dauer hält, bezweifeln schon jetzt viele.
Peer Steinbrück, der - noch - amtierende Bundesfinanzminister, hat gestern übrigens großen Wert auf die Feststellung gelegt, dass es seine freiwillige Entscheidung ist, in Dresden nicht wieder für den Parteivorstand kandidieren zu wollen. Der Hamburger fügte in seiner unnachahmlichen Art hinzu, diese Entscheidung habe er sich "vorher zurückgelegt - für den von mir nicht gewünschten, aber jetzt eingetretenen Fall, dass die SPD sich nicht in einer Regierungsbeteiligung wiederfindet". Allerdings habe er es auch nicht für möglich gehalten, "dass die SPD einem solchen Absturz entgegengegangen ist".
Aber abgesehen von Ehrgeiz, Eitelkeiten und Posten geht es in der SPD natürlich auch um Geld. Sehr viel Geld.
Die SPD-Parteizentrale muss nach dem Wahldebakel in ihrem Etat 2,5 Millionen Euro pro Jahr einsparen. Angeblich soll das Defizit durch Einsparungen im Betriebsmitteletat kompensiert werden, trotzdem geht im Berliner Willy- Brandt-Haus bereits die Angst vor betriebsbedingten Kündigungen um.